Wir haben den Musikgutachter Dr. Klaus Frieler bezüglich des “Bild am Sonntag”-Artikels gefragt, ob es stimmt, dass man mit Hilfe von Oszillogramm und Sonagramm ein Lied daraufhin prüfen kann, ob es ein Plagiat ist und wie solche Verfahren aussehen, wenn ein offizielles Plagiats-Gutachten erstellt werden soll. Er schrieb uns:
(…) Ihre Intuition trügt Sie nicht, das ist nicht unbedingt das übliche Vorgehen bei einem Plagiatsverdacht. Ein Sonagramm ist kein adäquates Mittel, um Musikwerke zu vergleichen, dazu sind die dort enthaltenen Informationen bei einem komplexen Musikstück mit einem Mix vieler Instrumente viel zu sehr miteinander verschränkt, als dass eine einfache Zuordnung der spektralen Anteil zu den einzelnen Instrumenten möglich wäre. Dies ist aber notwendig, denn bei einem Musikwerk sind vor allem die Melodien geschützt (der sogenannte “starre Melodienschutz”, §24 Abs.2 UrhG), diese lassen sich aber aus einem Frequenzspektrum nicht unmittelbar ablesen, dazu bedarf es etwa aufwändigerer Computeranalysen, das ist heutzutage teilweise machbar, aber recht fehleranfällig, oder klassischer Transkriptionen (Übertragung in Notenschrift) per Ohr. Nur wenn man eine einzelne Stimme hätte, wäre dies zum Teil möglich, aber auch dann führt eigentlich kein Weg an einer Transkription vorbei.
Sekundäre Elemente wie Harmoniefolge, Drumgroove, Tempo, Klangfarben, Arrangement etc. lassen sich ebenfalls nur sehr beschränkt mit Programmen direkt aus einer Audiodatei extrahieren. Diese Elemente müssen dann jeweils einzeln und in Kombination miteinander verglichen werden. Diese Vergleiche können auch nur teilweise mit Computerprogrammen vorgenommen werden. Mein Kollege Dr. Müllensiefen und ich haben z.B. eine Software zur Berechnung von Melodieähnlichkeiten entworfen, die wir an psychologischen Experimenten geeicht haben, das also versucht, die mögliche Einschätzung von Experten vorherzusagen, was auch ganz gut funktioniert. Doch auch dieses Programm muss mit Bedacht benutzt werden, da es nicht in jedem Kontext 100% verlässliche Ergebnisse liefert, es kann aber zumindest nützliche Hinweise auf gewisse “objektiv” vorhandene Ähnlichkeiten zweier Melodien liefern. Dieses Programm hat aber mit einer Spektralanalyse herzlich wenig zu tun, es arbeitet mit einer notenartigen Darstellung von Melodien.
Letztlich sind all diese Programme immer nur unterstützend und können keinesfalls eine klassische musikwissenschaftliche Analyse ersetzen. Dazu kommt meistens noch die nötige Einschätzung der Schöpfungshöhe eines Werkteils. Hier gilt die sogenannte “kleine Münze”, die auch eher trivialen Melodien noch Schutz gewährt. Musikalisches Allgemeingut, wie Akkorde, genretypische Begleitmuster, Instrumentierungen und Drumgrooves, Tempo, Taktart, Tonart etc. sind per se nicht schützenswert, können aber im Kontext durchaus als Indizien herangezogen werden, ob eine ungenehmigte Bearbeitung (denn das ist ein Plagiat im Auge des Gesetzes) vorliegt oder nicht. Interpretatorische Elemente, wie in dem BamS-Artikeln angesprochen, sind z.B. auch nicht schützbar.
Für ein Plagiatseinschätzung bedarf es viel musikwissenschaftliches Hintergund- und Fachwissen, sorgfältige Abschätzung der Werkteile im jeweiligen musikalischen und stilistischen Kontext usw. Kurz, ein seriöses Plagiatsgutachten basiert immer auf menschlichem Expertenwissen, mit manueller, maximal semiautomatischer Transkription der melodischen Anteile. Diese Arbeit kann zwar durch die Hilfe des Computers im Einzelfall erleichtert werden, aber bisher (und wahrscheinlich auch in Zukunft) durch diese nicht ersetzt werden.
Ich hoffe, meine Ausführungen waren Ihnen etwas nützlich und nicht zu fachchinesisch.
Mit freundlichen Grüßen,
Klaus FrielerP.S.: Ich habe mir aber gerade die beiden Songs mal angehört und in der Tat sind beim ersten Hören Ähnlichkeiten vorhanden (sonst wäre der Fall auch wohl nicht hochgekocht). Diese beziehen sich erstmal auf Genre (Euro Dance), Präsentation (eine einzelne “glamouröse” Sängerin mit ähnlichem, eher souligem Gesangstil, auch wenn Cascade schon deutlich mehr ins Rockige geht als Loreen, beide artikulieren auch recht unsauber), Dramaturgie (kontrastierende Strophen/Refrain-Teile), ähnliches Tempo sowie weitere genretypische Grooves, Begleitfiguren und Sounds. Da ist aber, wie gesagt, vieles bereits vom Genre ableitbar und bestimmt. Wegen der vielen Parallelen könnte man schon vermuten, dass die Produzenten von Cascada sich von Euphoria zumindest haben inspirieren lassen (vgl. Samsung / Apple o.ä.), aber für eine hieb- und stichfester Einschätzung müsste ich erst eine genauere Analyse (vor allem der Melodien) machen, diese Einschätzungen basieren nur auf einem Höreindruck, der nach meiner Erfahrung durchaus trügen kann.
Zweites Hören: Jenseits der oben genannten oberflächlichen Parallellen sind aber vor allem die melodischen Ähnlichkeiten entscheidend, und die sind nur bedingt gegeben. Da fällt zum einen “Glo-ri-ous” und “Eu-phor-ia” in den jeweiligen Refrains auf, bei beiden Phrasen steht ein langer Ton im Mittelpunkt, der dann mit zwei kürzeren Tönen weitergeführt wird. Aber die Melodie von “Glorious” geht an dieser Stelle nach unten, die von “Euphoria” nach oben. Danach kommen Phrasen, die sehr unähnlich sind. Außerdem wird das “Glorious” bei Cascada noch durch eine zusätzliche Phrase eingeleitet, die bei “Euphoria” fehlt. Des Weiteren weist die Strophe von “Glorious” gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Refrain von “Euphoria” auf, die einzelnen Tonfolgen sind aber jeweils sehr verschieden.
Ich denke mittlerweile, wenn ich das noch weiter analysieren würde, käme ich wohl eher zu dem Schluss, dass es sich **nicht** um ein Plagiat handelt, sondern wahrscheinlich um ein Soundalike. Ein Soundalike ist ein Werk, das einen sehr ähnlichen Gesamteindruck wie ein Original bewirken soll, aber in den entscheidenden, geschützten musikalischen Details abweicht. Sehr üblich in der Werbung, um Lizenzgebühren zu sparen. Hier wahrscheinlich mit der (bewussten oder unbewussten) Absicht geschehen, an dem Vorjahreserfolg von Loreen anzuknüpfen.