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“Bild” hält deutsche Mütter für faul

“Ist das wirklich zu glauben?” (Frage in “Bild” vom 26. April 2006)
“Nein.” (Antwort von BILDblog)

 
Darauf muss man erst einmal kommen. Aus dem “Familienbericht der Bundesregierung”, der gestern vorgelegt wurde, eine “Schock-Studie” und diese Schlagzeile zu machen:

Sind deutsche Mütter wirklich faul?

“Bild” schreibt:

Ist das wirklich zu glauben?

Laut dem “7. Familienbericht der Bundesregierung” arbeiten deutsche Mütter verglichen mit Müttern aus anderen europäischen Ländern am wenigsten — ihre Freizeit ist ihnen wichtiger als die Hausarbeit!

Das ist haarsträubender Unsinn. “Bild” vermischt geradezu böswillig den Begriff “arbeiten” im Sinne von Geld verdienen mit “arbeiten” im Sinne von die Hausarbeit machen. Deutsche Mütter arbeiten laut Studie viel weniger, um Geld zu verdienen, als andere europäische Mütter. Aber deutsche Mütter arbeiten nicht weniger im Haushalt. Und dass ihnen ihre Freizeit wichtiger ist als die Hausarbeit, steht nirgends in dem Bericht.

“Bild” schreibt weiter:

Auf Seite 57 des 589 Seiten starken Berichts, den Familienministerin Ursula von der Leyen (47, CDU) gestern vorstellte, heißt es wörtlich: “Die geringste Präsenz am Arbeitsmarkt findet sich bei deutschen Müttern, die diese gewonnene Zeit aber nicht in Hausarbeit investieren, sondern in persönliche Freizeit.”

Klartext: Mütter in Deutschland gehen weniger arbeiten als Mütter in Frankreich, Norwegen oder Finnland. Doch statt dafür mehr Zeit im Haushalt und bei der Kinderbetreuung zu verbringen, genießen sie lieber ihre Freizeit.

Doch darin steckt, anders als “Bild” behauptet, kein “Vorwurf”. Und schon gar nicht der Gedanke der Faulheit. Die Statistik besagt einfach, dass deutsche Mütter deutlich seltener berufstätig sind als andere europäische Mütter. Die bezahlen für ihre Berufstätigkeit mit einem Verlust von Freizeit.

Betrachtet man die Zahlen im Detail, sieht man, dass deutsche Mütter sogar ein bisschen mehr Zeit mit Hausarbeiten verbringen — der Unterschied ist nur nicht so groß, dass er die Zeit ausgleicht, in der andere arbeiten gehen. Deutsche Frauen verbringen nach dem Bericht 45 Minuten mehr Zeit mit Hausarbeit als norwegische Frauen, 42 Minuten mehr als schwedische Frauen, 22 Minuten mehr als französische Frauen.

Der Gedanke, dass deutsche Mütter “faul” seien, entstammt also allein den Köpfen der “Bild”-Zeitungs-Redakteure.

Franz Josef Wagner (der aus der Studie zu schließen scheint, dass Mütter von heute zuviel Sex haben) behauptet im faktisch nachvollziehbaren Teil seiner Kolumne:

Liebe deutsche Mütter, laut neuem Familienbericht der Bundesregierung seid Ihr faul. 2 Stunden und 18 Minuten investiert Ihr in Hausarbeit (…)

Auch das stimmt laut Familienbericht nicht. 2 Stunden und 18 Minuten beträgt die Zeit, die deutsche Mütter mit Kinderbetreuung verbringen. Hinzu kommen noch 233 Minuten, also fast vier Stunden, für andere Hausarbeiten.

Im Übrigen sind all diese Zahlen, die “Bild” als “Schock-Bericht” bezeichnet, nicht neu, sondern fast zwei Jahre alt. Sie sind eine von vielen Datenquellen in dem neuen Familienbericht und stammen aus der Untersuchung “How Europeans spend their time — Everyday life of women and men — Data 1998-2002”, die am 27.07.2004 veröffentlicht wurde. Diese Quellen-Angaben stehen auch in dem jetzt vorgelegten Bericht, und zwar unmittelbar über dem Satz, den “Bild” jetzt so aufgeregt und falsch interpretiert.

Nachtrag, 12.30 Uhr. Der Gedanke, dass der Familienbericht deutsche Mütter als zu faul kritisiere, kam durch die “Rheinische Post” in die Welt. Die berichtete gestern früh exklusiv unter dem Titel “Familienbericht kritisiert die Mütter in Deutschland”. Bereits einige Stunden zuvor hatte sie einen Kommentar zum Thema mit dem Titel “Faule Hausfrau oder Rabenmutter” veröffentlicht. Auf dem Vorabbericht der “Rheinischen Post”, der u.a. von der Agentur AFP verbreitet wurde, beruhen andere irreführende Berichte von gestern, zum Beispiel bei “Spiegel Online”. Hans Bertram, der Vorsitzende der Sachverständigenkommission, die den Bericht erstellt hat, widersprach auf der Pressekonferenz ausdrücklich der Interpretation durch die “Rheinische Post”. Über dieses Dementi berichtete gestern nachmittag u.a. auch AFP. Der “Bild”-Zeitung lagen zum Zeitpunkt ihrer Berichterstattung also nicht nur die irreführende Meldung der “Rheinischen Post” und das Dementi vor, sondern auch der vollständige Familienbericht.

“Bild” verzählt sich bei Rechtsextremen

Die “Bild”-Zeitung ist stolz darauf, die meistzitierte deutsche Tageszeitung zu sein. Am vergangenen Wochenende konnte sie die entsprechende Statistik wieder in die Höhe treiben.

Unter Berufung auf die “Bild”-Zeitung meldeten die Nachrichtenagentur dpa, AP, AFP und Reuters, die Zahl der Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund sei 2005 zurückgegangen, die Zahl der Gewaltverbrechen sogar deutlich. Beides hatte der “Bild”-Chefkorrespondent Einar Koch am Samstag in einem großen Artikel unter der Überschrift “Wie gefährlich sind die Rechten in Deutschland?” behauptet.

Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschuss, Sebastian Edathy (SPD), widersprach der “Bild”-Zeitung: Die Zahl rechter Delikte habe im vergangenen Jahr “nach vorliegenden, zuverlässigen Informationen” nicht abgenommen, sondern sogar deutlich zugenommen: um 27,5 Prozent die Straftaten insgesamt, um 23,6 Prozent die darin enthaltenen Gewalttaten.

Und wer hat Recht? Die offiziellen Zahlen will das Innenministerium erst mit dem Verfassungsschutzbericht Ende Mai bekanntgeben. Und doch ist schon heute klar, dass “Bild” eine Falschmeldung verbreitet hat. Es ist nämlich offenkundig, woher “Bild”-Redakteur Koch seine Zahlen von 10.271 rechten Straftaten insgesamt und 588 Gewaltverbrechen hat: Aus den Anfragen, die Petra Pau, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, monatlich an die Bundesregierung stellt. Die “Bild”-Zahlen entsprechen exakt Paus Übersicht “Rechtsextreme Straftaten 2005” [pdf].

Nur steht in dieser Übersicht auch folgender Satz: “Die Zahlen (…) gelten als vorläufig und liegen unter den endgültigen.” In ihren eigenen monatlichen Erklärungen schreibt Pau zum Beispiel, die “realen Zahlen sind — erfahrungsgemäß — doppelt so hoch”. Und auch in den Antworten der Bundesregierung [pdf] stehen Warnungen wie: “Die im Folgenden aufgeführten Zahlen stellen keine abschließende Statistik dar, sondern können sich aufgrund von Nachmeldungen noch (teilweise erheblich) verändern.”

Wir wissen nicht, ob der Chefkorrespondent von “Bild” das nicht verstanden oder in der Eile überlesen hat, ob er selbst schlecht recherchierte oder schlecht informiert wurde. Die “Bild”-Zeitung hat am heutigen Montag ihren Fehler weder korrigiert, noch über das Dementi ihrer Zahlen durch den Chef des Innenausschusses berichtet.

(Fortsetzung hier.)

Trotz Gerichtsurteil: Bild.de führt Leser in die Irre

Vor zwei Monaten hat Bild.T-Online sein Internetangebot komplett überarbeitet. Seitdem befindet sich auf jeder Seite oben eine Reihe kleiner grauer Laschen:

Fährt man mit der Maus über diese Flächen, bewegt sich die jeweilige Lasche nach oben und gibt ein buntes Feld darunter frei — etwa wie Reiter auf Karteikarten. Aktuell sehen die so aus:

Hinter diesen Reitern verbergen sich Links. Und jetzt kommt die Preisfrage: Führen diese Reiter zu redaktionellen Angeboten von Bild.de? Oder zu Werbung?

Die erstaunliche Auflösung: Sowohl als auch.

Die Reiter “WM 2006” und “Wir sind Fußball” führen zu nicht-werblichen Inhalten von Bild.de. Wer aber nun glaubt, dass das für alles gilt, auf dem das “Wir sind Fußball”-Logo steht, irrt. Wenn man auf “LCD-Fernseher” klickt, kommt man keineswegs (wie vielleicht zu vermuten) zu einem redaktionellen Test von Großbildschirmen anlässlich der WM. Sondern zu einer Anzeige, die für ein Angebot von Fujitsu-Siemens wirbt. Und der “Fan-Caddy” ist ein Produkt, das Volkswagen auf Bild.T-Online verkauft. Und natürlich ist auch der “Volks-Kredit” kein redaktionelles, sondern ein werbliches Angebot: dahinter verbirgt sich easyCredit.

Vor dem Klicken ist nicht zu unterscheiden, welches dieser Bild.de-Standardelemente zu einer reinen Werbeseite führt und welches nicht. Und damit verstößt Bild.de gegen ein Urteil des Berliner Landgerichtes vom 26. Juli 2005. Damals untersagte das Gericht Bild.de, auf eine Werbeseite für den “Volks-Seat” mit einem Teaser zu verweisen, der sich von Teasern für redaktionelle Inhalte nicht unterscheiden lässt (wir berichteten). Das Gericht urteilte:

Ein Hyperlink, der aus einem redaktionellen Zusammenhang auf eine Werbeseite führt, muss so gestaltet sein, dass dem Nutzer irgendwie erkennbar wird, dass auf eine Werbeseite verwiesen wird. (…)

Hier ist der Hyperlink, der auf die Werbeseite führt, genau so gestaltet, wie die Hinweise, die zu redaktionell gestalteten Seiten führen. Das Erscheinungsbild und die Platzierung sind identisch. Es kann daher selbst bei einer großzügigen Betrachtung nicht mehr davon ausgegangen werden, dass dem Nutzer ein klar erkennbarer Hinweis auf den werbenden Inhalt der Seite erteilt wird, auf die er weitergeleitet wird.

Genau dasselbe System, das Bild.T-Online damals untersagt wurde, hat das Unternehmen in der Gestaltung der neuen Seiten-Köpfe zum Prinzip gemacht: Eine Unterscheidung, welche Reiter zu Anzeigen führen und welche nicht, ist vor dem Klicken unmöglich.

In der Verhandlung 2005 hatte Bild.T-Online noch geltend gemacht, man könne davon ausgehen, dass die “Volks-Produkte” durch die breite Werbung so bekannt seien, dass niemand hinter einem Teaser mit dem entsprechenden Begriff etwas anderes als Werbung erwarte. Dieses Argument hatte das Gericht zurückgewiesen. Heute wäre die Position von Bild.T-Online noch schwächer, weil in den Reitern nicht nur die bekannten “Volks-Produkte” beworben werden, sondern auch Produkte, die ohne diesen Markennamen auskommen (“Fan-Caddy”) oder sogar mit einem redaktionellen Bild.de-Label versehen sind (“Wir sind Fußball! LCD-Fernseher”).

Und wir ersparen es uns, an dieser Stelle noch einmal all die Selbstverpflichtungen und Ankündigungen aufzuzählen, gegen die diese Bild.de-Praxis außerdem verstößt.

Flausen

Kommt ein Mann zum Arzt und klagt über Kopfschmerzen. Kein Wunder: In seinem Schädel stecken zwölf Stahlstifte. Am Tag zuvor hatte sie sich der Mann mit einer Nagelmaschine selbst in den Kopf geschossen. Der Patient wird operiert und behält keine bleibenden Schäden zurück.

Über diese unglaubliche Geschichte berichten heute Medien in aller Welt.

Nur in “Bild” ist die Geschichte noch unglaublicher. Um nicht zu sagen: falsch.

Bei “Bild” war man offenbar nachhaltig verwirrt von der Tatsache, dass sich all das, der Selbstmordversuch, der Krankenhausbesuch und die gelungene Operation, schon vor einem Jahr abgespielt hat — die Geschichte wurde erst jetzt in einem medizinischen Fachmagazin veröffentlicht. Aber “Bild”-Leute sind es bekanntlich nicht gewohnt, dass es Dinge gibt, die nicht “jetzt” passieren, und packten die Zeitangabe mit dem einen Jahr an eine Stelle, an der sie viel eindrucksvoller ist.

Und so hat “Bild” heute weltexklusiv die Geschichte von dem Mann, der ein ganzes Jahr lang mit Nägeln im Kopf durch die Gegend rannte:

12 Nägel im Kopf und 1 Jahr Migräne

Danke an die vielen Hinweisgeber!

Wer früher stirbt, ist länger tot

Schon wahr: Statistiken kann man leicht falsch interpretieren, und die Sterbetafeln, die das Statistische Bundesamt regelmäßig veröffentlicht, haben es ganz besonders in sich.

Aber immerhin hat sich die “Bild”-Zeitung über eine Woche Zeit gelassen, bis sie gestern aus der aktuellen Veröffentlichung des Amtes eine größere Seite-1-Geschichte machte. Und ein kurzer Moment des Nachdenkens hätte gereicht, die eigene Interpretation der Zahlen in Zweifel zu ziehen.

So alt werden Sie* - *rein statistisch

Unter dieser Überschrift veröffentlichte “Bild” eine Tabelle, die so beginnt:

Hmmm… “Bild” sagt den 75- bis 76-jährigen Männern voraus, dass sie etwa 64 Jahre alt werden? Und die heute 70-jährigen Männer können laut “Bild” damit rechnen, vor drei Jahren gestorben zu sein? Und die Frauen des Jahrgangs 1933 können sich schon mal darauf einstellen, in den nächsten Wochen das Zeitliche zu segnen?

Das stimmt natürlich nicht, nicht einmal “*rein statistisch”. Was die “Bild”-Zeitung trotz einwöchiger Zeit zum Nachdenken nicht verstanden hat, ist dies: Die Tabelle gibt die Lebenserwartung der Menschen des jeweiligen Jahrgangs zum Zeitpunkt ihrer Geburt an. Es handelt sich um eine sogenannte “Generationensterbetafel”. Im Jahr 1930 geborene Jungen wurden danach im Schnitt gut 64 Jahre alt. Diejenigen Männer dieses Jahrgangs, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, hatten aber natürlich schon eine wesentlich höhere Lebenserwartung. Und diejenigen, die allen Widrigkeiten zum Trotz heute noch leben, also annährend 76 sind, haben (auch rein statistisch) beste Chancen, noch 77 und älter zu werden.

Die “Bild”-Überschrift “So alt werden Sie” hätte zu einer ganz anderen Rechnung des Statistischen Bundesamtes gepasst: der “Periodensterbetafel”. Sie gibt an, mit wieviel weiteren Lebensjahren Menschen eines bestimmten Alters zu einem bestimmten Zeitpunkt rechnen können. Die gute Nachricht für alle heute 76-Jährigen lautet: Sie haben (rein statistisch) noch über neun Jahre Leben vor sich.

Und hätten also nicht, wie “Bild” ihnen prognostiziert, seit zwölf Jahren tot sein müssen.

Doch am heutigen Samstag treibt die “Bild”-Zeitung den Unsinn auf die Spitze: “Überlisten Sie die BILD-Tabelle: So verlängern Sie Ihr Leben!”, titelt sie. Und “Bild”-Autorin Friderike Stüwert behauptet:

Die Lebensdauer-Tabelle des Statistischen Bundesamtes — unzählige Deutsche hat sie erschreckt (BILD berichtete). Wer 1945 geboren wurde, hat danach z. B. als Mann nur noch sechs Jahre (Durchschnitt).

Nein, hat er nicht. Auch nicht “*rein statistisch”, auch nicht “(Durchschnitt)”. Er hatte zwar zum Zeitpunkt seiner Geburt eine Lebenserwartung von 67 Jahren. Aber wie alle Mitglieder dieses Jahrgangs, die noch nicht gestorben sind, kann er heute damit rechnen, noch 20 Jahre zu leben.

Gibt es niemanden bei “Bild”, der das versteht?

Danke an Alexander S. für den Hinweis und Mayweather für die Inspiration.

Keine “Stern”-Stunde

“Bild” macht heute Doris Schröder-Köpf zum “Gewinner des Tages”. Und es stimmt ja auch: Das Landgericht Hamburg gab ihr recht und urteilte gestern, dass der “Stern” eine Richtigstellung abdrucken muss. Am 23. Juni 2005 hatte die Illustrierte angedeutet, es sei Schröder-Köpf gewesen, die den damaligen Kanzler auf die Idee mit der Vertrauensfrage und den vorgezogenen Wahlen gebracht hätte. Schröder-Köpf bestreitet das vehement.

Schröder-Köpf gewinnt also gegen den “Stern”, und “Bild” macht Schröder-Köpf zum “Gewinner des Tages” und schreibt:

BILD meint: Keine Stern-Stunde!

Das ist interessant. Denn der “Stern” war damals keineswegs der erste, der diese Gerüchte verbreitete. Es gab sogar Mutmaßungen, dass “Stern”-Autorin Ulrike Posche genau diese Passage eigentlich nur aus einer anderen Zeitung abgeschrieben hätte. Aus welcher Zeitung? Einmal dürfen Sie raten.

Am 10. Juni 2005, also fast zwei Wochen vor dem umstrittenen “Stern”-Bericht, erschien in “Bild” ein Artikel von Rolf Kleine, dem Leiter des Hauptstadtbüros. Darin stand unter anderem zu lesen:

Freunde der Familie erzählen hinter vorgehaltener Hand: Doris Schröder-Köpf (41) gibt ihrem Gerhard in diesen schweren Wochen nicht nur Kraft! Gerade jetzt, so heißt es, stehe die erfahrene Politik-Journalistin ihrem Kanzler auch mit handfestem Rat zur Seite.

Eingeweihte erzählen: Auch bei dem Schröder-Plan, durch die Vertrauensfrage im Bundestag vorzeitige Neuwahlen zu erreichen, soll die Kanzler-Gattin den Kanzler beraten haben!

Es war Mitte März (…). Da habe Doris Schröder-Köpf das Thema Vertrauensfrage und vorgezogene Bundestagswahl ins Gespräch gebracht.

So gesehen hat die “Bild”-Zeitung mit ihrem Kommentar zum aktuellen Gerichtsurteil doppelt recht. Das war wirklich keine “Stern”-Stunde.

Mit “Bild”-Schlagzeilen Versicherungen verkaufen

Und da die “Bild”-Zeitung auch heute wieder erhebliche redaktionelle Energie auf ihre zunehmend groteske Renten-Lügen-Kampagne verwendet, stellt sich wieder einmal und immer drängender die Frage: Warum machen die das? Um sich als Kämpfer für den kleinen Mann darzustellen und die Auflage zu steigern?

Nicht nur.

Alles spricht dafür, dass die “Bild”-Kampagne den Verkauf privater Rentenversicherungen ankurbeln soll. Besonders deutlich wird die Vermischung redaktioneller und werblicher Inhalte heute im Online-Angebot von “Bild”. Dort stehen im Artikel “Rente ist nicht sicher: Müssen wir uns wirklich so belügen lassen?”, der von der gedruckten “Bild”-Zeitung übernommen wurde, vier Kästen, die “Mehr zum Thema” versprechen (siehe Ausriss):

Der erste “Mehr zum Thema”-Kasten (“Fragen an Experten: Müssen wir uns wirklich so belügen lassen?”) führt tatsächlich zu weiteren redaktionellen Inhalten aus der “Bild” von heute: vier Zitate von Experten zum Thema.

Der zweite “Mehr zum Thema”-Kasten (“Egal ob Single oder Familie — das gibt’s vom Staat dazu”) führt tatsächlich zu einer entsprechenden Service-Tabelle — allerdings von der Allianz, die auch private Rentenversicherungen verkauft und ein “Partner” von Bild.T-Online ist. Es handelt sich dabei um eine Anzeige.

Der dritte “Mehr zum Thema”-Kasten (“Hier können Sie Ihre Riester-Rente berechnen”) führt unerwarteterweise direkt zum Internetangebot der Allianz. Dort heißt es: “Berechnen Sie mit dem RiesterRente Rechner Ihre ganz persönliche Allianz RiesterRente.” Das Unternehmen vermischt den landläufigen Namen für eine staatlich geförderte Form der freiwilligen Rentenversicherung (“Riester-Rente”) mit dem Namen für ein eigenes Angebot (“Allianz RiesterRente”). Diese “Allianz RiesterRente” hatte vor wenigen Monaten noch einen anderen Markennamen: Sie hieß “VolksRente” und war ein gemeinsames Angebot von Allianz und Bild.T-Online.

Der vierte “Mehr zum Thema”-Kasten schließlich trägt den Titel “Was Sie über Ihre Riester-Rente wissen müssen!” und ist der beste von allen. Wer auf ihn klickt, kommt zu einem Pop-Up mit 7 Fragen zum Thema. Alles deutet darauf hin, dass es sich hier um ein redaktionelles Angebot handelt: Das Pop-Up sieht aus wie die redaktionellen Pop-Ups bei Bild.de, es trägt das Logo von Bild.de, in der Titelzeile steht “Bild.T-Online.de”, es gibt kein Logo eines Versicherungsunternehmen und keinen Link zu irgendeiner Verkaufsseite. Was es allerdings gibt, sind Fragen und Antworten wie diese:

Erhalten auch Hausfrauen bzw. -männer die vollen Zulagen?

Ja, wenn der berufstätige Ehepartner eine Allianz Riester Rente hat, kann auch der — nicht berufstätige — Ehegatte einen eigenen Vertrag abschließen.

Oder diese:

Wie bekomme ich die Förderung?

Das ist für Sie ganz einfach: Es genügt eine Bevollmächtigung, alles weitere erledigt Ihr Fachmann von der Allianz oder der Dresdner Bank für Sie.

Und der Artikel, in den all das eingepasst ist, trägt — wie gesagt — die Überschrift: “Müssen wir uns wirklich so belügen lassen?”
 
Nachtrag, 14 Uhr: Bild.de hat die “Mehr zum Thema”-Kästen, die nicht auf redaktionelle Seiten, sondern auf diverse Werbeseiten verlinkten, aus dem “Bild”-Artikel entfernt. Stattdessen wurde ein neuer Kasten eingefügt, der auf eine (dem Bild.de-Layout allerdings recht ähnliche) Allianz-Anzeige verlinkt, und der Kasten selbst mit dem Wort “Anzeige” überschrieben (siehe Ausriss).

“Bild” entdeckt Privatsphäre

In der Bild-Zeitung werden … häufig persönlichkeitsrechtsverletzende Beiträge veröffentlicht. Oftmals verletzen die Beiträge sogar die Intimsphäre der Betroffenen. (Landgericht Berlin, Januar 2003)

 
Sie müssen Tränen gelacht haben in der “Bild”-Redaktion, als ihnen einfiel, dass sie in einen Artikel diesen scheinbar empörten Satz schreiben können:

Es sind Aufnahmen aus dem Privatbereich, die kein Mensch von sich in der Zeitung sehen möchte.

Der Satz steht in einem “Bild”-Artikel über Fotos von Angela Merkel beim Umziehen, die britische Zeitungen veröffentlicht haben. Bestimmt lachten sie bei “Bild” noch, als sie unter einen Ausriss von dem Skandal-Artikel scheinbar fassungslos die Worte setzten:

Kein Respekt vor der Privatsphäre der Kanzlerin.

Und als sie das Zitat des stellvertretenden Regierungssprechers einbauten:

“Auch die Bundeskanzlerin und ihr Mann haben ein Recht auf Privatsphäre!”

Vielleicht haben auch Günther Jauch und Anke Engelke Tränen gelacht, Gregor Gysi und die Frau von Joschka Fischer und all die anderen bekannten und unbekannten Menschen, die erst vor Gericht ziehen mussten und müssen, um gegenüber der “Bild”-Zeitung ihr Recht auf Privatsphäre durchzusetzen.

Ganz besonders hat bestimmt Sabine Christiansen gelacht, die gerade juristisch gegen die “Bild”-Zeitung vorgeht, weil sie in den vergangenen Wochen mehrmals Fotos aus ihrem Privatleben veröffentlicht hat. Dabei hatte die Fernsehmoderatorin im vergangenen Jahr eine einstweilige Verfügung gegen die Axel Springer AG erwirkt, die es dem Verlag untersagen, “Bildnisse aus dem privaten Alltag” Christiansens zu verbreiten. (Springer hat dagegen Rechtsmittel eingelegt.)

Vielleicht hat auch Angela Merkel selbst gelacht, weil sie in der vergangenen Woche fast an jedem Tag ihres Privaturlaubs in Italien mit Fotos in der “Bild”-Zeitung war. Einige davon waren so, dass die “Bild am Sonntag” sie zum Anlass für eine staatspolitische Grundsatzdiskussion nahm, ob eine Kanzlerin denn im Urlaub so herumlaufen dürfe.

Aber zurück zur empörten “Bild”-Zeitung von heute. Die hat mit ihrer Empörung ja Recht: Zeitungen dürfen keine Bilder aus der Privatsphäre von Prominenten verbreiten, solange es kein begründetes öffentliches Interesse daran gibt. Das betrifft die Merkelschen Urlaubsfotos, die “Bild” veröffentlicht hat (und Bild.de praktischerweise gleich in dem Empörungs-Artikel verlinkt hat), ebenso wie die Urlaubsfotos aus den britischen Blättern. Verboten ist nach dem “Caroline-Urteil” des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beides.

Es sei denn, Merkel hätte der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt, als einer Art Homestory “Die Merkels in Italien”. Aber was hat “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann nach dem “Caroline”-Urteil noch dem “Focus” gesagt? Seine Zeitung werde “auf jedwede Art von Homestorys über Politiker verzichten”. Um beim Leser “von vornherein jeden Anschein vermeiden, wir würden mit eingebauter Schere im Kopf nur noch Hofberichterstattung betreiben”.

Hm. Entweder hat “Bild” also mit der Veröffentlichung der Merkelschen Urlaubsfotos gegen geltendes Recht verstoßen oder gegen den eigenen Vorsatz, sich nicht zu Hofberichterstattern machen zu lassen.

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