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(…)

Die “Bild”-Zeitung ist immer noch außer sich vor Wut, dass der ehemalige RAF-Terrorist Christian Klar im Januar auf Bewährung freikommt und auch noch einen Praktikumsplatz als Bühnentechniker am Berliner Ensemble (BE) bekommen soll. Heutiger Anlass für die Empörung ist ein Interview, das Dirk Meinelt, der Betriebsratsvorsitzende des BE, der Berliner Stadtzeitschrift “Zitty” gegeben hat. Oder wie “Bild” titelt:

Nicht ganz unwiderlich auch, wie “Bild” Meinelts Zitate manipuliert, um beim Leser maximale Empörung zu erreichen.

“Bild” schreibt:

Und was meint Meinelt zu dem Vorwurf vieler Politiker, dass Klar bis heute keine Reue gezeigt hätte? “Was stellen sich eigentlich die Leute unter Reue vor? (…) Soll er in der Presse einen Kniefall machen?”

Die Auslassungszeichen sind interessant. Das ganze Zitat lautet nämlich so:

“Was stellen sich eigentlich die Leute unter Reue vor? Ich kenne die Briefe von Christian Klar, ich kenne das Gnadengesuch an den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, ich kenne seine Briefe an Horst Köhler und den ganzen Schriftverkehr. Er hat in allen Briefen geschrieben, dass er bedauert. Soll er in der Presse einen Kniefall machen?

Das ist nicht die einzige Manipulation. “Bild” schreibt:

Und dann klingt sogar ein bisschen Mitleid für den neuen Mitarbeiter durch: “Wir haben lange mit ihm darüber gesprochen, dass natürlich Fragen zu seiner Vergangenheit von den Kollegen kommen werden. Das können Sie sich ja vorstellen, was so jemand von einem einfachen Bühnentechniker gefragt wird. Die Arbeit in der Technik, das ist richtiges Milieu. Das ist schon ein bisschen derb und ein sehr raues Klima.”

Einem einfachen Bühnentechniker – ist das nicht genau die Abteilung, in der Klar dann arbeiten wird? Und was ist Klar dann bitte? Ihr da unten, ich – der gerade freigelassene RAF-Terrorist – hier oben? So ein Schmierenstück hat es noch nie im BE gegeben. Hoffentlich wird’s bald abgesetzt…

“Bild” hat sich Meinelts Sätze aus verschiedenen Stellen des Interviews zusammengeklaubt, um diesen Eindruck zu konstruieren. In der “Zitty” heißt es:

Christian Klar wurde Anfang 2007 stark kritisiert, weil er ein kapitalismuskritisches Grußwort an die Rosa-Luxemburg-Konferenz der Zeitung “Junge Welt” geschrieben hatte. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Er hat gesagt, dass er bereut, was durch die Presse gegangen ist. Er weiß auch, dass wir im BE politische Aktivität nicht dulden werden. Das ist von vorneherein klar. Wir haben lange mit ihm darüber gesprochen, dass natürlich Fragen zu seiner Vergangenheit von den Kollegen kommen werden. Das können Sie sich ja vorstellen, was so jemand von einem einfachen Bühnentechniker gefragt wird. Wenn man Klar als Menschen kennenlernt, merkt man: Die Angst vieler ist unbegründet. Von diesem Menschen geht keine Gefahr aus.

(…) Wie bereiten Sie Klar auf das Ensemble vor?

Die Arbeit in der Technik, das ist richtiges Milieu. Die werden ihn fragen: Hast du denn überhaupt was gelernt? Kannst du nach 26 Jahren überhaupt etwas? Das ist schon ein bisschen derb und ein sehr raues Klima. Er muss mit allen Sachen umgehen lernen, er kommt ja in Kontakt mit den Kollegen von der Bühnentechnik, den Beleuchtern, der Requisite und den Schauspielern.

Es ist schwer, aus diesen Antworten zu schließen, dass das BE meint, Christian Klar stünde in irgendeiner Form über den einfachen Bühnenarbeitern. Dazu muss man die Sätze schon kunstvoll neu montieren und Teile ganz weglassen. Sogar ohne Auslassungzeichen.

Das “Zitty”-Interview, auf dem der “Bild”-Artikel beruht, trägt übrigens die Überschrift “Christian Klar im Berliner Ensemble: “Der hat sich hier anzupassen. Fertig.” Das ist auch ein Zitat von Dirk Meinelt.

Bescheidwissen über HIV und Aids

Bio-Lehrer Karlo Sauer von der Geschwister-Scholl-Hauptschule in Radevormwald bei Köln hatte eine gute Idee. Er lud zum Welt-Aids-Tag eine Expertin zur Aufklärung seiner Schüler ein, denn:

“Viele wissen einfach nicht richtig über Aids und HIV Bescheid.”

Nicht ganz so gut war seine Idee, auch einen Journalisten vom “Remscheider General-Anzeiger” einzuladen. Denn der fügte in seinen Artikel über den Aufklärungsunterricht den Satz ein:

Deutschlandweit sind rund 86.000 Menschen mit dem HI-Virus infiziert, 27.000 Menschen starben letztes Jahr durch eine Infektion, besagt eine Studie des Robert-Koch-Instituts.

Das erscheint schon bei einer grob überschlägigen Rechnung unwahrscheinlich. In Wahrheit schätzt das Robert-Koch-Institut die Zahl der Menschen, die im vergangenen Jahr an den Folgen einer HIV-Infektion gestorben sind, auf ungefähr 650. Insgesamt, also seit Entdeckung des Virus vor rund 25 Jahren, sind es ungefähr 27.000 Tote. Auch mit den 86.000 liegt der “General-Anzeiger” falsch. Das ist die geschätzte Gesamtzahl all jener, die sich im Verlauf der Epidemie in Deutschland angesteckt haben — inklusive der bereits gestorbenen. In Deutschland leben laut Robert-Koch-Institut aktuell rund 63.500 Menschen mit HIV oder Aids.

Auch ein weiterer Aufklärungsversuch des “Remscheider General-Anzeigers” gestern ging schief. In einem Artikel der Jugendbeilage “X-Ray” hieß es:

2119 Menschen in Deutschland sind an HIV erkrankt. In Nordrhein-Westfalen sind es 519 (…)

Diese Zahlen sind nun viel zu niedrig — egal ob die Autorin nun HIV-Infektionen oder Aids-Erkrankungen meinte. Die Zahl der Aids-Kranken schätzt das RKI auf 10.500 bundesweit und 1700 in Nordrhein-Westfalen. Diesen Fehler korrigierte “X-Ray” heute.

Aber wenn die Aufklärung der Menschen über HIV und Aids von der Sorgfalt und dem Verständnis von Journalisten abhängt, wird es ein mühsamer Weg.

Autojournalismus

Der Autohersteller Audi ist begeistert von seinen neuen LED-Scheinwerfern und ihren Möglichkeiten. “Spiegel Online” auch.

Wie weit die gemeinsame Begeisterung geht, entdeckt man, wenn man eine Pressemitteilung von Audi mit “umfangreichem Hintergrundmaterial zum Thema ‘LED-Technologie und Licht-Design'” mit einem “Spiegel Online”-Artikel zum “Techniktrend LED-Licht” vergleicht:

Audi-PR: “Spiegel Online”-Artikel:
Die Erfolgsstory begann vor 5 Jahren in Detroit. Audi präsentierte auf der North American International Auto Show die Konzeptstudie Pikes Peak quattro. Das elegante SUV, Vorbild für den späteren Audi Q7, beeindruckte mit den ersten Nebelscheinwerfern der Welt, die mit Hochleistungs-Leuchtdioden bestückt waren. Vor rund fünf Jahren zeigte Audi in Detroit die Studie Pikes Peak Quattro, aus der später der Geländekoloss Q7 wurde. Die Studie verfügte über die weltweit ersten Nebelscheinwerfer mit LED-Technik.
Ein gutes Frontbild mit markanten Leuchten macht das Auto, seinen Charakter und die Marke auf den ersten Blick unverwechselbar. (…) Nun aber lassen die unterschiedlichen Formen des LED-Tagfahrlichts auch eine Unterscheidung der einzelnen Modelle zu – und das sogar bei Nacht. (…) Das wohl bekannteste Beispiel im Heckbereich sind die Rückleuchten des Audi A6 Avant. Die ringförmig angeordneten Leuchtdioden haben sich genauso zum prägnanten Wiedererkennungsfaktor entwickelt wie das geschwungene LED-Tagfahrlicht in der Front des Audi A4. Ob bei Konzeptautos wie einer kürzlich gezeigten A1-Studie oder Serienfahrzeugen – die LED-Technik soll Audi-Modelle insbesondere bei schlechten Sichtverhältnissen oder bei Nacht unverwechselbar machen. Das gelingt zum Beispiel durch den feschen Schwung des Tagfahrlicht-LED-Bandes beim Audi A4 oder durch die charakteristischen Leuchtquader in den Heckleuchten des Audi A6.
Licht emittierende Dioden – kurz LEDs genannt – sind einen Quadratmillimeter kleine Halbleiter (…) und unschlagbar effizient, wenn es um den Energieverbrauch geht. Bereits heute haben Xenon- und LED-Scheinwerfer eine 4-fach höhere Energieeffizienz als Halogenschweinwerfer. (…) Zudem glänzen LEDs durch eine fast unbegrenzte Lebensdauer (…). Licht emittierende Dioden, kurz LEDs genannt, sind besonders klein, haltbar und sparsam. Im Vergleich zu Halogenscheinwerfern weisen aktuelle LEDs eine etwa viermal höhere Energieeffizienz aus.
Doch LEDs vermögen noch mehr. Sie können auch den Kraftstoffverbrauch des Fahrzeugs reduzieren. Wenn im Mai 2011 in ganz Europa die Tagfahrlichtpflicht eingeführt wird, haben Audi-Modelle mit LED-Technologie an Bord die Nase vorn. (…) Dabei verbrauchen klassisches Abblendlicht, Rückleuchten und Kennzeichenbeleuchtung rund 200 Watt Leistung, welche die Lichtmaschine ständig erzeugen muss. Zum Vergleich: Das moderne LED-Tagfahrlicht des neuen Audi A4 braucht nur 15 Watt Leistung (…) Unter dem Strich entspricht das einer Ersparnis von rund 0,2 Liter Benzin pro 100 km und somit rund 4 g weniger CO2-Emission pro km. Letztlich, so die Audi-Techniker, helfe LED-Licht beim Spritsparen. Vor allem, wenn ab Mai 2011 in ganz Europa die Tagfahrlichtpflicht eingeführt wird. Wer dann mit klassischem Abblendlicht, Rücklicht und Kennzeichenbeleuchtung unterwegs ist, benötigt stetig rund 200 Watt Leistung, die von der Lichtmaschine des Autos erbracht werden müssen. Das LED-Tagfahrlicht eines Audi A5 jedoch komme mit 15 Watt aus. “Unter dem Strich entspricht das einer Ersparnis von 0,2 Liter Benzin pro 100 Kilometer sowie rund 4 Gramm weniger CO2-Emission pro Kilometer”, heißt es bei Audi.
Neben dem markanten Design ist die Energieeffizienz ein weiterer Grund sich für das Hightech-Licht zu entscheiden. So ordern inzwischen mehr als die Hälfte aller Käufer eines Audi A3 oder A4 das Tagfahrlicht mit LED-Technik. Spritverbrauch und Schadstoffausstoß des Wagens sinken, das ist lobenswert. Was Audi jedoch noch mehr freuen dürfte ist, dass der Umsatz klettert. Denn LED-Tagfahrlicht, das inzwischen von mehr als der Hälfte aller Käufer eines neuen Audi A3 oder A4 bestellt wird, ist natürlich aufpreispflichtig.
Die nächste Generation weißer Hochleistungs-LED, die im kommenden Jahr auf den Markt kommt, wird mit gigantischen 100 Lumen pro Watt aufwarten und erstmals die Effizienz des Xenonlichts schlagen. Dahinter verbirgt sich eine rasante Entwicklung. “Leuchtdioden sind vergleichbar mit Computerchips. Alle 2 Jahre gibt es eine Leistungssteigerung von rund 30 Prozent”, sagt Berlitz (…). Die nächste Generation weißer Hochleistungs-LED, die im kommenden Jahr auf den Markt kommt, werde erstmals die Effizienz des Xenonlichts schlagen, erklärt Stephan Berlitz, Leiter der Lichttechnik und Elektronik bei Audi. “Leuchtdioden sind vergleichbar mit Computerchips. Alle zwei Jahre gibt es eine Leistungssteigerung von rund 30 Prozent”, sagt Berlitz.
Digitales Licht, wie Berlitz die neue Lichttechnologie nennt, lässt sich mit Hilfe der Elektronik in seiner Helligkeit flexibel verändern und exakt an die Bedürfnisse des Autofahrers anpassen. (…) So befindet sich bereits ein Fernlicht in der Vorserienentwicklung, das Autofahrer blendfrei über nächtliche Straßen führen soll. Es funktioniert über eine variable Lichtverteilung: Die Elektronik erkennt den Abstand zum entgegenkommenden Fahrzeug und sorgt dafür, dass die Fläche davor permanent optimal ausgeleuchtet ist. Er spricht im Zusammenhang mit den kommenden Lichtquellen gern von “digitalem Licht”. Das soll sich künftig in seiner Helligkeit flexibel steuern lassen und stets den Sichtverhältnissen in der jeweiligen Situation des Autofahrers angepasst werden. Bereits in der Vorentwicklung befindet sich ein LED-Fernlicht, das Autofahrer blendfrei durch die Nacht führen soll, weil entgegenkommende Fahrzeug von der Steuerelektronik erkannt und die Lichtintensität entsprechend variiert wird.
Die Gestaltung des Lichtstreifens unterstreicht dabei den Charakter der Fahrzeuge wie der Lidstrich bei einem Auge. Damit ändert sich die “Körpersprache” der Audi-Modelle grundlegend: “Früher wirkte das Lichtschema, also der Kühlergrill in Kombination mit den runden Leuchten, eher wie das Gesicht eines freundlichen Bären”, sagt André Georgi, Senior Designer Lichtsysteme. Heute: “(…) das LED-Tagfahrlicht beim R8 zeichnet die Hörner eines Stiers (…)” Die Modelle erhielten durch die neuen Scheinwerfer eine ganz andere Körpersprache, sagt André Georgi, Lichtsystem-Designer in Ingolstadt. “Früher wirkte das Lichtschema, also der Kühlergrill in Kombination mit den runden Leuchten, eher wie das Gesicht eines freundlichen Bären.” Das sei nun anders geworden. Georgi. Im LED-Tagfahrlicht des R8 erkennt er einen Stier.

Erstaunlich ist allerdings, dass der LED-Artikel bei “Spiegel Online” schon am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde, die LED-Pressemappe von Audi mit denselben Zitaten von Audi-Mitarbeitern sowie teils wortgleichen Formulierungen und Erklärungen aber erst gestern. So ganz genau mag Audi-Pressesprecher Tilman Schneider das nicht erklären. Es sei aber nicht so, dass man “Spiegel Online” die fertige Pressemappe für den Artikel vorab zur Verfügung gestellt habe, sagt er uns auf Anfrage. Es sei eher so, dass sich halt beide für das Thema interessiert hätten.

Wie auch immer: Der einzige Gedanke in dem ganzen “Spiegel Online”-Artikel, der nicht in der Pressemappe von Audi vorkommt, ist der kurze Hinweis, dass durch die tollen neuen LEDs auch der Umsatz von Audi steigt, weil das Tagfahrlicht Aufpreis kostet.

Mit Dank an Medienrauschen!

Gewinnmaximierung

Es begann mit einem jungen Mann aus München, der Journalist werden wollte und sich fragte, ob er eine Chance hätte, ohne Abitur an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg genommen zu werden. Er stellte die Frage unter dem Pseudonym “Kent Brockman” im März dieses Jahres auch auf journalismus.com, einem von einem freien Journalisten gegründeten “Journalisten-Treff im Web” mit Informationen und Foren.

Im Juni dieses Jahres eröffnete “Kent Brockman” eine neue Diskussion und fragte: “Welche Journalistenschule ist die Beste?” Diesmal verband er die Frage mit einer Abstimmung unter den anderen Mitgliedern des Forums. Eine solche private Umfrage kann dort jeder starten, der ein neues Thema eröffnet, und jeder kann teilnehmen — sie ist natürlich nicht repräsentativ und lässt sich leicht manipulieren. Die Umfrage stieß auch bei den Journalistenschulen auf reges Interesse, und am 10. September, als sie automatisch beendet wurde, hatten über 52 Prozent der 11.433 Teilnehmer für die Axel Springer Akademie gestimmt.

Darüber freute sich die Axel-Springer-AG, der die Ausbildungsstätte gehört, so sehr, dass sie drei Tage später eine Pressemitteilung verbreitete. Darin schrieb sie natürlich nicht, dass es sich nur um eine Abstimmung handelte, die irgendein Forumsmitglied gestartet hatte, wie es täglich ungezählte Male in den Foren dieser Welt geschieht, sondern titelte: “Auszeichnung für die Axel Springer Akademie”. Der Verlag nannte es eine Umfrage von journalismus.com, nicht auf journalismus.com — und lobte den Akademie-Direktor Jan-Eric Peters für sein wegweisendes Konzept.

Die “Bild”-Zeitung, bei der die Schüler der Axel Springer Akademie im Rahmen ihrer Ausbildung etwas über praktische Ethik im Journalismus lernen, erklärte die verlagseigene Schule am selben Tag wegen der Abstimmung zum “Gewinner des Tages”, worauf Akademie-Direktor Jan-Eric Peters wiederum in seinem Blog hinwies, nicht ohne in typischem Bild.de-Englisch hinzuzufügen: “Schwarmintelligenz at it’s best”.

Und in der aktuellen Ausgabe des Medienmagazin “M Menschen – Machen – Medien”, das von der Gewerkschaft Ver.di herausgegeben wird, steht nun in der Rubrik “Preise”:

Die Axel Springer Akademie (Berlin) wurde bei einer Umfrage des Internet-Portals journalismus.com zur besten deutschen Journalistenschule gewählt, gefolgt von der Deutschen Journalistenschule (München) sowie der Henri-Nannen-Schule (Hamburg) und der Zeitenspiegel-Reportageschule (Reutlingen).

So einfach ist das.

Mit Dank an Kirstin M.!

Geht immer schief: “Bild” und Aids

Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendwann wird auch der Letzte, also die “Bild”-Zeitung, verstanden haben, dass es einen Unterschied zwischen einer HIV-Infektion und einer Aids-Erkrankung gibt. Aber noch ist es nicht so weit.

Heute schafft es “Bild” in einem Artikel zum gestrigen Welt-Aids-Tag, beide Begriffe wieder munter so zu verwenden, als wären sie synonym, und sie in der Schlagzeile gleich ganz zu verschmelzen:

Grundlage für den Bericht ist eine Pressemitteilung des Robert-Koch-Institutes (RKI) vom 24. November, die die “Bild”-Zeitung auch eine Woche später noch nicht verstanden hat. Dass nach wie vor rund jeder siebte HIV-Infizierte in Deutschland in Berlin lebt, nennt sie eine “Schock-Zahl” und schreibt weiter:

2008 steckten sich vermutlich 500 Menschen in Berlin neu mit dem HI-Virus an — 88 mehr als im Jahr zuvor.

Die Warnung des RKI:

Die vom RKI zusammengestellten Eckdaten zur Abschätzung der Zahl der HIV-Neuinfektionen (…) erfolgt in jedem Jahr neu auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Daten und Informationen und stellen keine automatische Fortschreibung früher publizierter Daten dar. Durch zusätzliche Daten und Informationen sowie durch Anpassung der Methodik können sich die Ergebnisse der Berechnungen von Jahr zu Jahr verändern und liefern jedes Jahr eine aktualisierte Einschätzung des gesamten bisherigen Verlaufs der HIV-Epidemie. Die jeweils angegebenen Zahlenwerte können daher nicht direkt mit früher publizierten Schätzungen verglichen werden.

Es hat also nichts genützt, dass das Robert-Koch-Institut den Hinweis, dass diese Zahlen nicht mit denen des Vorjahres vergleichbar sind (siehe Kasten rechts), in seinen Veröffentlichungen [pdf] gleichzeitig fett, kursiv und unterstrichen hervorgehoben hat. “Bild” vergleicht sie trotzdem.

Und das auch noch falsch: Das Institut unterscheidet zwischen den Neudiagnosen eines Jahres (nach dem Zeitpunkt, zu dem jemand positiv auf HIV getestet wird) und den Neuinfektionen eines Jahres (nach dem geschätzten, oft viel früher liegenden Zeitpunkt, zu dem er sich infiziert hat). Wie uns eine Sprecherin des RKI auf Anfrage bestätigt, vergleicht “Bild” offenbar die gemeldeten Neudiagnosen 2007 mit den geschätzten Neuinfektionen 2008.

Vielleicht ist die “Bild”-Rechnung selbst in der Tendenz falsch. Zwar gibt das Robert-Koch-Institut für einzelne Bundesländer keine Vergleichszahlen über Neuinfektionen aus den Vorjahren an. Für die gesamte Bundesrepublik aber schätzt es, dass die Zahl 2008 erstmals seit längerer Zeit gegenüber dem Vorjahr nicht zugenommen hat, sondern stagniert.

Mit Dank an Holger W.!

“Bild” verwechselt Bibel mit Grundgesetz

Wie sehr mit “Bild” die Fantasie durchgeht, weil erstmals ein türkischstämmiger Deutscher einer großen Partei vorsteht, zeigt auch diese Frage, die Hanno Kautz und Rolf Kleine in ihrem Interview Cem Özdemir gestellt haben:

BILD: Könnten Sie sich einen türkischstämmigen Kanzler vorstellen, einen Minister, der vielleicht seinen Amtseid auf den Koran schwört ...

Eine schlaue Antwort an die beiden “Bild”-Redakteure wäre gewesen:

Nein. Genauso wenig, wie ich mir vorstellen kann, dass vielleicht ein Bundeskanzler, ein Bundesminister oder der Bundespräsident seinen Amtseid auf die Bibel schwört. Sie etwa?

Die Eidesformel im Grundgesetz, Artikel 56:

“Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.”

Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden.

Denn anders als in den Vereinigten Staaten wird im deutschen Parlament, wie uns ein Sprecher des Bundestages auf Anfrage erklärt, “auf gar kein Buch geschworen” — im wörtlichen Sinne nicht einmal auf das Grundgesetz. Das ist allerdings, im Gegensatz zur Bibel, bei der Vereidigung wenigstens anwesend, weil die Eidesformel aus ihm zitiert wird. Und auf das Grundgesetz bezieht sich auch der Eid, den Minister, Kanzler und Präsident ablegen.

In diesem Eid (siehe Kasten rechts) gibt es zwar eine “religiöse Beteuerung”, die der zu Vereidigende auch weglassen kann (wie es Gerhard Schröder getan hat). Diese Formel bezieht sich aber nicht auf die Bibel, sondern allgemein: auf “Gott”.

Es dürfte ein doppelter Schock für “Bild” und ihre entsetzten Leser sein: Das Abendland, das gerade unterzugehen droht, hat es nie gegeben.

Danke an Christoph C.!

Die Ausländer machen uns unser Pisa schief

Während andere noch über die Aussagekraft der neuen Pisa-Studie streiten oder nach Ursachen für ihre Ergebnisse suchen, ist “Bild” heute schon einen Schritt weiter und präsentiert eine mögliche Lösung, wie man das Abschneiden Deutschlands verbessern kann:

Würden nur die Schüler, die deutsche Eltern haben, gemessen werden, schnitten alle Bundesländer im internationalen Bildungsvergleich deutlich besser ab — sieben wären unter den PISA-Top-Ten bei Naturwissenschaften (beim Lesen ist das Bild ähnlich).

“Bild” illustriert das mit einer Grafik (Ausriss rechts), die die deutlich schlechteren Ergebnisse von Kindern mit Migrationshintergrund noch extremer wirken lässt, weil die Skala nicht beil null beginnt, und stellt angesichts dessen die scheinbar naheliegende Frage:

Brauchen wir eine Ausländer-Quote für alle Schulklassen?

Natürlich, kommentiert die Seite “Lehrerfreund” süffisant, denn die Vorteile lägen auf der Hand:

Die deutschen SchülerInnen würden bessere PISA-Noten holen, und die Welt würde entzückt auf die Nation Goethens blicken. Außerdem könnte man in kleineren Klassen unterrichten, die Kosten für den Schulbetrieb würden sinken, und kein Mehmed würde mehr einem Fritz das Pausenbrot auf erpresserische Art und Weise entwenden.

In dieser idyllischen, rein deutschen Welt müsste man nurmehr das Problem lösen, was man mit den zahllosen Ausländerkindern macht. Sie in reine Ausländerklassen zu stecken brächte nichts – denn bei PISA wären sie wieder dabei und würden den Schnitt drücken. Alternativ könnte man ihnen einfach kategorisch den Zugang zur allgemeinen Schulbildung verwehren. Dann würden sie analphabetisch auf der Straße rumhängen, kiffen und alte Omas ausrauben — und die Boulevardpresse hätte eine neue Schlagzeile: “Brauchen wir eine Ausländer-Quote für alle deutschen Straßen?”.

Mit Dank an Berthold!

Nachhilfe für Franz Josef Wagner

“Ein schlechter Schüler”, sei er gewesen, und “nie bei der Sache”, schreibt “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner heute anlässlich der PISA-Ergebnisse an die “lieben klugen Sachsenschüler”, und wer möchte das bezweifeln?

Die erste Lokomotive der Welt, die Saxonia, wurde 1839 in Sachsen gebaut. ... Meine Bitte an Euch PISA-Sieger: Werdet keine Klugscheißer. Ich hasse Klugscheißer und Typen, die sich als Erste im Klassenzimmer melden.Herr Wagner, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht.

Die schlechte: Auch mit der gestrigen Kolumne wäre Ihre Versetzung wieder gefährdet. Bei aller Euphorie, in die Sie sich angesichts der vielen sächsischen Erfindungen schreiben — die erste Lokomotive der Welt wurde nicht 1839 in Sachsen gebaut, wie Sie behaupten, sondern schon 35 Jahre zuvor in Großbritannien. Und den ersten modernen Büstenhalter ließ 1889 Herminie Cadolle patentieren — nicht in Sachsen, sondern in Frankreich.

Die gute: Sie sind aus der Schule raus, Sie dürfen spicken! Lassen Sie sich erklären, was ein Nachschlagewerk ist, oder suchen Sie sich eine Zeitung, die noch einmal über die Texte drüberguckt, die Sie schreiben. Doch, das ist erlaubt, und es tut gar nicht weh.

PS: Ist nicht schlimm, dass Sie “Klugscheißer” hassen. Wir mögen Sie auch nicht.

Mit Dank an Peter K. und — für den Nachtrag mit dem BH — Daniel, JMM, Yannick S. und Pawel S.!

Allgemein  

Nur verletzt, nicht noch verhöhnt

Die “Bild”-Zeitung muss 36.000 Euro an eine Münchnerin zahlen, über die sie vor gut drei Jahren in einer Weise berichtet hat, die ihr Persönlichkeitsrecht verletzte. Der Vorstand der Axel Springer AG stimmte laut einem Bericht der “Süddeutschen Zeitung” einem entsprechenden Vergleich zu, den das Oberlandesgericht München vorgeschlagen hatte.

In der ersten Instanz hatte das Landgericht München “Bild” noch zu einer Zahlung von 50.000 Euro verurteilt und zur Haftung für gesundheitliche Folgeschäden der Frau verurteilt. Der Verlag war dagegen in Berufung gegangen. Das Oberlandesgericht gab Springer nun teilweise Recht: Die Summe sei zu hoch angesetzt. Und der Verlag habe die Frau im Prozess nicht noch zusätzlich verhöhnt.

In dem Artikel, um den es geht, hatte “Bild” die Frau identifizierbar gemacht, deren türkischer Ehemann bei seiner Einreise nach Deutschland unter dem Verdacht verhaftet wurde, elf Jahre zuvor seine damalige Freundin umgebracht zu haben. Der Bericht begann zudem mit dem Satz: “Mit Mitte 40 noch mal einen zehn Jahre jüngeren Mann abgreifen – für […] war’s wie ein Hauptgewinn im Lotto.” Der Justiziar Springers hatte danach erklärt, dieser Satz sei nicht negativ, sondern erwecke, wenn überhaupt, “Mitgefühl und Erleichterung” gegenüber der Frau.

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