Erst vergangene Woche deckte “Bild” den Fall einer “unheimlichen Keksdose” aus dem Jahr 1999 auf, die neben dem World Trade Center (WTC) ein Flugzeug zeigt — was “Bild” vermuten ließ, dass sich die Terroristen des 11. September 2001 auf diesem Weg “geheime Botschaften” mitteilten (wir berichteten).
Nun ist “schon wieder so ein unheimlicher Fund” aufgetaucht — und diesmal ist es keine Keksdose, sondern ein Anhänger für den Christbaum! Eine “Bild”-Leser-Reporterin hat ihn 2000 “ausgerechnet auf der Aussichtsplattform des WTC” gekauft! Und er zeigt: “Ein Flugzeug, das über den Türmen des World Trade Centers kreist”! Angeboten als Weihnachtsbaum-Schmuck! “Bild” zahlt ihr dankbar 500 Euro und fragt:
Dann wäre das Ding allerdings eine Sensation. Wir lesen aus der Darstellung (Ausriss links) nämlich die versteckte Terroristen-Botschaft: Vergesst den Keksdosen-Plan, wir greifen die Freiheitsstatue an!
Die amerikanische Internetseite “Regret the Error”, die sich auf Berichtigungen in den Medien spezialisiert hat, wählt in ihrem Jahresrückblick immer die “Korrektur des Jahres”. Gewinner in diesem Jahr ist die britische Zeitung “The Sun” mit folgender Klarstellung und Entschuldigung:
Nach unserem Artikel über die Geburtstagsfeiern von Prinzessin Eugenie sind wir gebeten worden, darauf hinzuweisen, dass die Party die ganze Zeit von Erwachsenen beaufsichtigt wurde und dass zwar ein bisschen Unordnung am Ende des Abends weggeräumt wurde, es aber keine Schäden an Möbeln gab, keine Zecher in die Schlafzimmer hechteten, um betrunken miteinander rumzumachen, und es unkorrekt war, das Haus als verwüstet zu beschreiben.
Wir freuen uns, dies klarstellen zu können, und bedauern jedweden Kummer, den unser Bericht verursacht hat.
(Übersetzung von uns.)
Dabei war der ursprüngliche Artikel durchaus detailliert und farbenfroh und beschrieb, wie minderjährige Gäste besoffen ohnmächtig wurden, alles vollkotzten und Zigaretten auf den Möbel ausdrückten.
Schöne Korrektur in der “Sun” jedenfalls. Und warum steht das hier alles? Ach ja.
So, dann räumen wir schnell noch ein wenig Gerümpel weg, das vom letzten Jahr liegengeblieben ist.
Die “neue Fun-Sportart” Zorbing beispielsweise, die Bild.de jetzt in Neuseeland entdeckt hat — nur zehn Jahre und zweieinhalb Monate, nachdem die “Bild am Sonntag” sie entdeckt hat und am 13. Oktober 1996 groß darüber berichtete.
Nicht zu vergessen auch dieses Foto vom “Handy mit Musikplayer”, das Apple möglicherweise in diesem Jahr herausbringen will. Das Projekt sei “streng geheim” schreibt Bild.de richtig, zeigt aber schon ein Foto vom “Hersteller”…
…in Wahrheit ist es eines von vielen Fakes, oder freundlicher: von vielen künstlerischen Impressionen, wie das sagenumwobene Ding aussehen könnte.
Dann war da noch der Skandal, der es am 28. Dezember auf die Seite 1 der “Bild”-Zeitung schaffte (siehe Ausriss): Mandy, eine der Sängerinnen der Popgruppe Monrose, soll sich in einer Kontaktbörse registriert haben, obwohl sie einen Freund hat und selbst in der Anzeige schrieb: “Ich mag es nicht, wenn man seine Freunde hintergeht.” Was “Bild” “übersah”: Das Profil ist alt, seit 3.1.2006 war keine Aktivität mehr feststellbar. Und wann hat Mandy ihren Freund kennengelernt? Silvester 2005/06.
Und schließlich noch ein “Bild”-Höhepunkt zum Jahreswechsel:
Auf einer 1999 hergestellten Porzellandose ist neben dem World Trade Center eine Passagiermaschine zu sehen (siehe Ausriss unten). “Es scheint”, staunt “Bild”, “als steuere sie die Türme an. Fast genau so, wie es geschah!”
Tja. Was könnte dahinter stecken? “Bild” weiß es nicht, neigt aber zu der These, dass sich die Attentäter des 11. September 2001 von Deutschland aus mit Hilfe der Keksdose “eine geheime Botschaft” zuschickten. Noch einmal: dass sich die Attentäter des 11. September 2001 von Deutschland aus mit Hilfe der Keksdose “eine geheime Botschaft” zuschickten.
Falls es so war, haben sich die Terroristen allerdings entgegen der ursprünglichen Keksdosenplanung dann doch entschieden, den Anflug nicht schon hinter dem Eiffelturm über Big Ben zu beginnen.
Danke an Martin M., Reinhard B., Alexander S., Malte L., Matthias R., Mathias K., Till V., Andy S., Cay D., Tobias G., Andreas R. und das redblog!
Vor einigen Tagen hatten wir der “Bild”-Zeitung einige Päckchen Verpixelungen geschenkt, damit sie es schafft, Menschen, die anonymisiert werden sollten, tatsächlich zu anonymisieren. Anscheinend ist unser Präsent noch nicht angekommen.
Aber eigentlich gibt es keinen Grund zum Scherzen. “Bild”-Düsseldorf berichtet heute groß über den Prozess gegen einen Fahrer, dessen Bus in Kevelaer mit einem LKW kollidierte — bei dem Unfall waren 30 Menschen verletzt und einer getötet worden. Das Gericht verurteilte den Fahrer zu einer Bewährungsstrafe.
“Bild” zeigt ein großes Foto von dem Mann und hat ihn darauf durch Verpixelungen anonymisiert. Eine Mühe, die sich die Zeitung hätte sparen können: Direkt darunter zeigt sie ihn auf einem weiteren Foto völlig unverfremdet.
Und wir wissen immer noch nicht, ob es bloße Unfähigkeit oder irgendein böses Kalkül ist, dass “Bild” so etwas immer wieder passiert. Wir wissen aber auch nicht, was beunruhigender wäre.
“Frechste Bescherung aller Zeiten” nennt die “Bild”-Zeitung ihre Idee, einer Reihe von Prominenten das zu schenken, was sie angeblich verdient haben.
Weil der Modeschöpfer Karl Lagerfeld so “gern beim Alter schummelt”, bekommt er von “Bild” ein “Klassenfoto (datiert)”. Lustig. Und welches Alter gibt “Bild” in diesem Zusammenhang für Lagerfeld an? “(68)”.
Tja. Also, wenn wir die “frechste Bescherung aller Zeiten” veranstalteten, würden wir “Bild” ein Archiv schenken. Darin könnte die Zeitung dann diesen drei Jahre alten Artikel aus der “Bild am Sonntag” finden:
Mit dem vielversprechenden Satz “TV-Großmaul Stefan Raab (40) — er will es noch einmal von einer Frau besorgt bekommen…” beginnt die “Bild”-Zeitung heute einen Artikel über einen möglichen neuen Boxkampf Raabs gegen Regina Halmich. Und weiter:
7,35 Mio Zuschauer sahen 2001 fasziniert zu, wie Box-Königin Regina Halmich (30) Raab in einem fünf-Runden-Kampf übel verprügelte (…).
Raab-Sender Pro7 erreichte mit dem Show-Fight am 22. März 2001 seine bisherige Rekord-Quote.
Das ist natürlich Unfug. Als Pro Sieben am 7. März 2004 den Film “Der Schuh des Manitu” zeigte, saßen über 12 Millionen Menschen vor dem Bildschirm. Und auch vor dem Boxkampf 2001 hatte es schon Sendungen auf ProSieben gegeben, die höhere Quoten erreichten: “Forrest Gump” sahen am 1. November 1997 über 8 Millionen Zuschauer, “Jurassic Park” am 12. Januar 1997 fast 10 Millionen Zuschauer.
Danke an Frederic M. und Jens S.!
Nachtrag, 16.15 Uhr. Allerdings hatte der Boxkampf, weil er spät am Abend lief, einen besonders hohen Marktanteil. Vielleicht nannte “Bild” das ja irreführenderweise die “Rekord-Quote”. Oder gar den Marktanteil bei 14- bis 49-Jährigen, der für die Privatsender entscheidend ist. Man weiß es nicht.
Dirk Hoeren ist bei “Bild” ein vielbeschäftigter Mann. Am selben Tag, an dem er mit einem großen Interview seine Falschmeldung von letzter Woche wiedergutmachen muss, schreibt er (zusammen mit einer Kollegin) schon wieder einen neuen “Bild”-Aufmacher, an dessen Fehlern er sich die nächsten Tage abarbeiten kann.
Dieser “Schock” ist vielleicht für Menschen, die sich auch aus anderen Quellen als die “Bild”-Zeitung informieren, nicht gar so groß. Denn die Erhöhung der Beitragssätze der Krankenkassen zeichnete sich schon ab. Am 15. Dezember titelte die “Financial Times Deutschland”:
Krankenkassen wollen Beiträge stark erhöhen
Die Spitzenverbände hätten eine Erhöhung um 0,7 Prozentpunkte angekündigt, schrieb die “FTD”. Das “kostet Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen knapp 7 Mrd. Euro”.
Eine knappe Woche später hat die Schock-Welle endlich die “Bild”-Zeitung erreicht, und sie staunt auf der Seite 1:
Bis zu 7 Milliarden Euro kassieren [die gesetzlichen Kassen] 2007 von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mehr ab.
Nun wäre Dirk Hoeren aber nicht Dirk Hoeren, wenn seine Artikel nur spät wären und nicht auch fehlerhaft. Er schreibt:
Die höchsten Steigerungen haben die Versicherten der AOK Rheinland zu tragen: (…).
Nun wäre Dirk Hoeren aber nicht Dirk Hoeren, wenn seine Artikel nur spät und fehlerhaft wären und nicht auch grob irreführend. Er schreibt über die Erhöhung vieler Allgemeiner Ortskrankenkassen (AOK):
Damit liegen die Beiträge dann teilweise schon über 16 Prozent. Absoluter Rekord! Trauriger Spitzenreiter ist die AOK Saarland mit 16,7 Prozent.
“Bild” hat einfach auf alle Beitragssätze 0,9 Prozentpunkte aufgeschlagen. Das ist der Sonderbeitrag, den die Arbeitnehmer zusätzlich zum Regelsatz bezahlen müssen, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch zahlen. Die höhere Zahl gilt zwar eigentlich nicht als “allgemeiner Beitragssatz”; sie zu nennen wäre aber nicht falsch — würde “Bild” nur einmal erklären, dass ihre Zahlen eben inklusive dieses Sonderbeitrags gemeint sind, und nicht mehrmals den Eindruck erwecken, die Arbeitgeber müssten den gleichen Satz zahlen.
Vollends unzulässig wird die Rechnung aber an der Stelle, an der “Bild” die so erhöhten Beitragssätze mit dem Beitragssatz vergleicht, den Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt einmal als Ziel ausgegeben hatte. Auf die von Schmidt genannten “12,15 Prozent” hat “Bild” nämlich “vergessen”, ebenfalls die 0,9 Prozentpunkte aufzuschlagen — um die Diskrepanz zwischen Ziel und Realität noch größer wirken zu lassen als sie ohnehin schon ist.
Und wenn man, wie die Mitarbeiter der Bild.de-Rubrik “Internet-Klatsch”, ohnehin den ganzen Tag aus kleinen Dingen große Geschichten macht, wird aus einer “kurzen Beziehung” zwischen Martha Stewart und Anthony Hopkins auf der Homepage schnell mal eine Ehe.
Danke an Katrin S., Alexander B., Marco S. und Jörg F.!
Nachtrag, 19.40 Uhr. Aus der “Ehefrau” wurde inzwischen die “Freundin”.
Einen der größten Erfolge unter Chefredakteur Kai Diekmann feierte die “Bild”-Zeitung im Jahr 2003 mit ihrer wochenlangen Berichterstattung über einen in den USA lebenden deutschen Sozialhilfeempfänger, den sie “Florida Rolf” nannte. Die Kampagne erreichte nicht nur, dass der Mann nach Deutschland zurückkehrte, sondern auch, dass der Bundestag in kürzester Zeit die Gesetzeslage verschärfte. Dabei betraf die Regelung nicht einmal 1000 vermeintliche “Sozialschnorrer” und bedeutete möglicherweise sogar höhere Ausgaben für die Steuerzahler.
In diesen Tagen arbeitet sich “Bild” wieder an einem vermeintlichen “Abzocker” ab: Henrico Frank, ein Arbeitsloser, der SPD-Chef Kurt Beck dafür verantwortlich machte, Hartz-IV-Empfänger zu sein, und dafür von ihm gesagt bekam, er solle sich erst einmal waschen und rasieren, dann bekomme er auch Arbeit. Frank ließ sich von Journalisten zu einem Friseurbesuch überreden, Beck vermittelte ihm darauf mehrere Stellenangebote, Frank ließ ein Treffen mit Beck jedoch platzen und lehnte auch die angebotenen Jobs ab. Seitdem ist er für “Bild” “Deutschlands frechster Arbeitsloser” und heute zum zweiten Mal großer Seite-1-Aufmacher:
Die Frage klingt, als wollte “Bild”, ähnlich wie bei “Florida-Rolf”, eine vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeit im Gesetz anprangern. In Wahrheit hat der Bundestag erst vor kurzem die Gesetzeslage für Menschen wie Henrico Frank drastisch verschärft. Wer innerhalb eines Jahres drei Angebote seiner Arbeitsagentur ohne guten Grund ablehnt, bekommt vom kommendem Jahr an für ein Vierteljahr sämtliche Zahlungen gestrichen, ist nicht krankenversichert, bekommt kein Geld für Unterkunft und Heizung. Nach Ansicht von Kritikern dieses Gesetzes kann das für viele hartnäckige Arbeitsverweigerer bedeuten, obdachlos zu werden. Die neue Regelung ist juristisch umstritten, weil eigentlich jeder Mensch einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf das Existenzminimum hat.
“Faulenzern” und “Abzockern” wie Henrico Frank droht also nach dem verabschiedeten Gesetz, nichts zu bekommen. Da es schwer ist, Menschen weniger als nichts zu geben, ist nicht ganz klar, auf welche Art Gesetzesverschärfung die “Bild”-Kampagne zielen könnte: Die Möglichkeit, “Faulenzer” und “Abzocker” aus dem Land zu jagen?
Aber vielleicht geht es der “Bild”-Zeitung hier auch nicht um das Gesetz. Vielleicht hat sie mit Henrico Frank eine persönliche Rechnung offen. Darauf deutet zum Beispiel der gestrige “Bild”-Artikel hin, der so begann:
Die “Bild”-Zeitung lässt offen, ob sie mit “uns” uns meint oder “Bild”-Mitarbeiter. Deren Gefühl, “verarscht” worden zu sein, könnte aber daher rühren, dass die Geschichte so schön auf ein Happy-End hätte hinauslaufen können: Dank tatkräftiger Unterstützung der Medien wird aus nichtsnutzigem Hartz-IV-Suff-und-Schmuddel-Punk ein glückliches Mitglied der arbeitenden Gesellschaft. Henrico Frank wollte dieses Spiel, hinter dem er eine PR-Aktion von Beck vermutet, offenbar nicht mitspielen — ob er dabei klug vorging, ist eine andere Frage.
Die “Bild”-Zeitung jedoch erweckt den Eindruck, Frank habe sie in die Irre geführt. Dabei zeigte Frank von Anfang an wenig Bereitschaft, die ihm von dem Medien zugeteilte Rolle zu spielen — selbst den Frisurwechsel bereute er schnell. Dass Frank “vier Handys” hat (nach eigenen Angaben alle Prepaid, ohne laufende Kosten), war “Bild” ebenso bekannt, wie dass er weiter seinen Anstecker “Arbeit ist Scheiße” trug. Erst im Nachhinein machte sie daraus Belege, um Frank zu “Deutschlands frechstem Arbeitslosen” zu stempeln.
Die “Bild”-Berichte über den Arbeitslosen sind inzwischen voller bösartiger Interpretationen und einseitiger Verdrehungen. Aus dem Angebot, für “5,50 Euro / Stunde” zu arbeiten, macht “Bild” einen von acht “gut bezahlten Jobs”. Dass sich die Sprecherin Franks bei den Arbeitgebern erkundigte, ob sich die Stellen (u.a. Straßenbauarbeiter, Maurer, Maler) überhaupt eignen für jemanden, der “nur noch eine Niere, dazu einen Bandscheibenvorfall und eine Schulterprellung” hat, nennt “Bild” schlicht “dreist”: “Motto: Ich kann nicht, aber was gibt’s denn?” Nebenbei fabriziert “Bild” aus den Zitaten mehrerer Politiker der Linkspartei, die grundsätzlich begrüßen, wenn Arbeitslose in die Politik und die Parlamente gehen, eine mögliche Kandidatur Franks für den Bundestag.
Den CDU-Politiker Michael Fuchs hingegen zitierte “Bild” gestern mit den Worten:
Was wirft das für ein Licht auf all die anderen Arbeitslosen! Henrico Frank bringt sie alle in Verruf.
Tut er das wirklich? Oder tun das nicht “Bild” und die anderen Medien, die das Verhalten Franks in einer Breite diskutieren, die gar keinen Sinn ergäbe, wenn sie davon ausgingen, dass Franks Verhalten ein völliger Einzelfall wäre. Dadurch, dass sie den Fall seit einer Woche ausführlich begleiten, suggerieren sie erst, dass es sich um ein grundsätzliches Phänomen und Problem handelt.
Der Politologe Frank Oschmiansky hat vor einigen Jahren die Konjunktur der immer wiederkehrenden “Faulheitsdebatten” untersucht und befand, sie folgten “zu einem guten Teil politischen Kalkülen”. Sie ließen bei den Bürgern den Eindruck entstehen, der “Missbrauch sozialer Leistungen” sei eines der größten Probleme dieses Landes — dabei sei der Schaden rechnerisch “marginal” gegenüber Delikten wie Schwarzarbeit, Subventionsmissbrauch, Korruption oder Steuerhinterziehung. Oschmianskys Fazit:
Zudem zielen die “Faulheitsvorwürfe” darauf, das sozialpsychologische Klima zu schaffen, um Leistungseinschränkungen oder auch Zumutbarkeits- oder Sanktionsverschärfungen den Boden zu bereiten. (…) Durch die Skandalisierung des Leistungsmissbrauchs wird ein Klima erzeugt, in dem Kürzungen von Sozialleistungen leichter durchsetzbar sind.
Man könnte denken, dass jemand, der Artikel geschrieben hat wie “Lesbe (taubstumm) sticht Lesbe (taubstumm) nieder”, “Waldmensch metzelt Spaziergänger nieder” oder “Armer Mann mit Dauererektion: Droht jetzt sogar eine Amputation?” — dass so jemand schwer zu erschüttern ist. Aber so abgebrüht ist “Bild”-Reporter Sven Kuschel nicht. Die Meldung, dass vier nordrhein-westfälische Zweckverbände an einer Fusion arbeiten, hat ihn elektrisiert. In gewaltiger Größe verkündete er gestern in “Bild”-Westfalen diese frohe Botschaft:
Ein Wort für dieses Gebilde hat Kuschel auch schon gefunden: “Sauerstone”. In Anspielung auf den “weltberühmten Yellowstone-Nationalpark in den USA”, der auch nur knapp dreimal so groß sei wie der “Super-Nationalpark”, der da im Sauerland entstehe.
Blöd nur, dass im Sauerland gar kein Nationalpark entsteht, nicht mal ein Normal-Nationalpark. Entstehen könnte bestenfalls ein großer Naturpark — immerhin taucht dieses entscheidende Wort im “Bild”-Text auch mehrmals auf. Im Gegensatz zu den gesetzlich streng geschützten Nationalparks, Gebieten von “besonderer Eigenart”, in denen sich die Natur möglichst ungestört entwickeln soll, geht es bei Naturparks vor allem um Landschaften, die sich für Erholung und Tourismus eignen und entsprechend gepflegt, entwickelt und vermarktet werden sollen.
Wie wenig spektakulär der geplante Zusammenschluss von vier bestehenden Naturparks ist, ahnt man, wenn Theo Melcher, der Kreisdirektor von Olpe, in “Bild” sagt, es gehe um einen Abbau von Bürokratie und schnellere Planung und Umsetzung von Projekten. Wie auf diese Weise das Sauerland “zu einem der grünsten Punkte Deutschlands” wird, bleibt das Geheimnis von “Bild”-Mann Sven Kuschel.
Apropos: Der “Geheimplan”, den “Bild” da aufgetan hat, ist so geheim, dass Kreisdirektor Melcher ihn sechs Tage vor dem “Bild”-Bericht bereits gegenüber dem WDR bestätigt hat. Und zehn Tage vor dem “Bild”-Bericht bereits das Süderländer Tageblatt von einer Sitzung des Zweckverbandes Naturpark Ebbegebirge berichtete, auf der der Plan diskutiert und begrüßt wurde. Und diese Sitzung 23 Tage vor dem “Bild”-Bericht bereits von der “Siegener Zeitung” unter der Überschrift “Zweckverband spricht über Zusammenlegung” angekündigt wurde.
Aber, hey, die Sache mit Yellowstone und dem Super-Nationalpark hat “Bild” natürlich exklusiv.
Vielen Dank an Jörg W. für den sachdienlichen Hinweis!