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Wie “Bild” gegen den Mindestlohn kämpft II

Es war eine besondere Demonstration, die gestern in Berlin stattfand. Rund 1000 Mitarbeiter von mehreren privaten Postanbietern demonstrierten gegen höhere Löhne. Genauer gesagt: gegen einen Mindestlohn von bis zu 9,80 Euro pro Stunde.

Wie besonders die Umstände der Demonstration waren, kann man in vielen Berliner Zeitungen nachlesen. Der “Tagesspiegel” berichtet unter Bezug auf die Agentur ddp, Mitarbeiter des zweitgrößten Postanbieters PIN seien anscheinend von der Firma dazu gedrängt worden, an der Kundgebung teilzunehmen. Die Gewerkschaft Ver.di spreche von “blankem Zynismus”, weil die Mitarbeiter nur Dumpinglöhne bekämen, obwohl das Unternehmen mittlerweile “satte Gewinne” einfahre. Die “Berliner Zeitung” zitiert die Leiterin eines PIN-Briefdepots, sie habe ihre Mitarbeiter zu der Demonstration “im Auftrag von ganz oben” zusammengetrommelt. Die “taz” nennt die Kundgebung eine “Demo von oben”.

“Bild”-Leser ahnen nicht einmal etwas davon.

Dabei berichtet die Zeitung in ihrer Berliner Ausgabe heute groß über die Demo:

Die Menschen in grün auf den Fotos, das sind übrigens die Mitarbeiter der PIN-AG, einer Tochterfirma der Axel Springer AG, die die “Bild”-Zeitung herausgibt. Aber auch diese Verbindung, die vielleicht erklärt, warum “Bild” einige Besonderheiten der Demonstration verschweigt und selbst so massiv gegen den Mindestlohn kämpft, verschweigt “Bild” (anders als z.B. das Schwesterblatt “Berliner Morgenpost”).

Stattdessen schreibt “Bild” den erstaunlichen Satz:

[Einen Mindestlohn von] 9,80 Euro pro Stunde aber können sich private Anbieter nicht leisten — ihre Geschäftstätigkeit müssten sie aufgeben.

Für “Bild” ist der Verlust von Arbeitsplätzen durch den Mindestlohn nicht nur eine Möglichkeit, ein Szenario, eine Drohung oder eine von mehreren widersprüchlichen Erwartungen. Für “Bild” ist es eine Tatsache: Kommt der Mindestlohn, müssen private Briefzusteller dicht machen.

Und zum vierten Mal innerhalb von zwei Wochen wettert heute auch der “Bild”-Kommentar gegen die Mindestlöhne. Hans-Werner Sinn, Präsident des “angesehenen” (“Bild”) Ifo-Instituts München, wiederholt darin, was “Bild” bereits viele Male behauptet hat:

Mindestlöhne Gift für den Arbeitsmarkt

(…) Gesetzliche Mindestlöhne sind immer Gift für den Arbeitsmarkt und setzen gerade Geringverdiener verstärkt dem Risiko der Arbeitslosigkeit aus.

Nach unseren Berechnungen vernichtet ein bundesweiter Mindestlohn von 7,50 Euro die Stunde insgesamt 1,1 Millionen Arbeitsplätze (…).

Am Freitag berät der Bundesrat, ob ein Schwesterunternehmen der “Bild”-Zeitung in Zukunft auf Dumpinglöhne verzichten muss der Mindestlohn für die privaten Postanbieter gelten soll.

Nachtrag. Kein Tag mehr ohne Anti-Mindestlohn-Berichte:

“Bild”, 11.10.2007:

Neue Gewerkschaft gegen Mindestlohn

(…) Der Präsident des Arbeitgeberverbandes der neuen Post- und Zustelldienste, Florian Gerster, sagte gestern: “Es gibt empörte Arbeitnehmer, die sich nicht von Ver.di vertreten fühlen. Nicht auszuschließen, dass es dieser Tage zu einer Gewerkschaftsgründung kommt.” Mit dieser neuen Gewerkschaft will Gerster Gespräche über einen Tarifvertrag führen.

“Bild”, 12.10.2007:

BILD-Interview mit dem Wirtschafts-Nobelpreisträger Prof. Edmund Phelps (74)*
Mindestlohn hilft euch Deutschen nicht!

(…) Prof. Phelps: Ich war nie ein Freund gesetzlicher Mindestlöhne und rate dringend davon ab!

Wie “Bild” gegen den Mindestlohn kämpft

Wenn sich die “Bild”-Zeitung gegen die Meinung der überwältigenden Mehrheit ihrer Leser stellt, lohnt es sich fast immer, genauer hinzuschauen. Rund 90 Prozent der Deutschen sind laut einer Umfrage von Infratest dimap für Mindestlöhne entweder in allen oder bestimmten Branchen. In “Bild” stand diese oder eine ähnliche Zahl nicht. Dafür aber seit drei Wochen Tag für Tag ein beeindruckendes publizistisches Trommelfeuer gegen den Mindestlohn im Allgemeinen und bei den Briefzustellern im Besonderen.

“Bild”, 19. September:

MINDESTLOHN Ist das wirklich gut für die Beschäftigten?

Nein, sagen Experten! Wirtschaftsweiser Prof. Wolfgang Franz zu BILD: “Die Erfahrung zeigt, dass Mindestlöhne Jobs kosten, vor allem bei den Geringqualifizierten. Ein Mitarbeiter darf ein Unternehmen nicht mehr kosten, als er der Firma einbringt. (…)”

Nach Berechnungen des Ifo-Instituts würde ein bundesweiter Mindestlohn von 7,50 Euro/Stunde rund 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland vernichten. (…)

Welche Folgen hätte der Mindestlohn für die privaten Post-Firmen?

Laut Branchenverband DVPT würden die Kosten der Betriebe dadurch deutlich steigen. Verbandschef Elmar Müller: “Von den rund 750 privaten Post-Unternehmen müßten 200 um ihre Existenz bangen.” Tausende Jobs wären bedroht.

“Bild”, 20. September:

MINDESTLOHN? Dann gehen wir pleite!

“Bild”, 26. September:

“Steuerbefreiung statt Mindestlohn!”

Prof. Ulrich Blum (54), Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle: “Forderungen nach Mindestlöhnen sind völlig falsch! Sie steigern erst Kosten, dann die Arbeitslosigkeit.”

“Bild”-Kommentar, 29. September:

Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze!

(…) gesetzliche Mindestlöhne gefährden Arbeitsplätze. Das angesehene Ifo-Institut rechnet damit, dass die Einführung eines bundesweiten Mindesteinkommens mehr als eine Million Stellen vernichten könnte. (…)

Dass durch gesetzliche Mindestlöhne neue Jobs entstehen, ist ein Märchen. Das Gegenteil ist richtig!

“Bild”, 1. Oktober:

Ein Mindestlohn für die Post-Branche würde bis zu 50 000 Arbeitsplätze vernichten, befürchtet das Bundeswirtschaftsministerium (“Spiegel”).

“Bild”, 4. Oktober:

Herr Gerster, warum sind Sie gegen Mindestlöhne?

BILD-Interview mit Florian Gerster (58), dem ehemaligen Arbeitsminister und Chef der Bundesagentur für Arbeit, heute Präsident des Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste

(…) Ein Mindestlohn von 9,80 Euro schützt nicht die Arbeitnehmer, sondern vernichtet Arbeitsplätze.

“Bild”-Kommentar, 4. Oktober:

… der arbeitsplatzfeindliche Mindestlohn …

“Bild”, 5. Oktober:

US-Nobelpreisträger warnt vor Mindestlohn

“Bild”, 8. Oktober:

Mindestlohn? Der kostet uns den Job!

(…) Die privaten Postkonkurrenten warnten am Wochenende erneut davor, dass eine Mindestlohn-Höhe von bis zu 9,80 Euro pro Stunde bis zu 50000 Jobs gefährdet.

“Bild”-Kommentar, 8. Oktober:

Auch einen Mindestlohn gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn der Staat festsetzt, was ein Arbeitnehmer zu bekommen hat, wird mancher Chef seinen Laden zumachen müssen und Angestellte vor die Tür setzen. (…)

Mindestlohn ohne “Mindestgewinn” kostet Arbeitsplätze, belastet die Sozialkassen und würgt den Aufschwung ab.

In den ganzen drei Wochen lässt “Bild” keinen einzigen unabhängigen Experten zu Wort kommen, der sich für den Mindestlohn ausspricht. (Dabei gibt es sie durchaus, und sie verweisen zum Beispiel auf die positiven Wirkungen, die der Mindestlohn auf den Arbeitsmarkt in Großbritannien und den USA gehabt habe.) Nur DGB-Chef Michael Sommer wird mit einem kurzen Plädoyer für den Mindestlohn zitiert.

Der “Bild”-Leser findet in dieser Zeit auch keinen Hinweis darauf, was “Bild” motivieren könnte, so massiv gegen den Mindestlohn zu kämpfen. Dabei gibt es eine einfache Antwort: Die Axel Springer AG, die “Bild” herausgibt, hat vor einem Vierteljahr für eine halbe Milliarde Euro die Mehrheit an der PIN-AG erworben, einem privaten Briefzusteller. Die PIN-AG ist mittlerweile der zweitgrößte deutsche Anbieter und hat mehr als 7000 Mitarbeiter.

Wie “Bild” erklärt, die eigenen Interessen nicht offenlegen zu müssen
 
“Wenn über das Thema Mindestlöhne berichtet wird, ist das nicht ein Thema der PIN, sondern betrifft in erster Linie alle privaten Postdienstleister…”
 
“Bild”-Sprecher Tobias Fröhlich gegenüber “Report Mainz”

Das ARD-Magazin “Report Mainz”, berichtete gestern ausführlich über die Anti-Mindestlohn-Kampagne der “Bild”-Zeitung und anderer Springer-Blätter. Dort sagte der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, Springer spekuliere bei der PIN-AG auf Niedriglöhne, sonst gehe die Kalkulation des Unternehmens nicht mehr auf (PIN-Mitarbeiter berichteten gegenüber “Report Mainz” und “Plusminus” von Stundenlöhnen von unter 5 Euro.). Ein Sprecher der Gewerkschaft Ver.di sagte “Report Mainz”, “der Druck auf die Journalisten” bei Springer, im Interesse des Post-Engagements des Verlages zu berichten, sei “sehr groß”. Er sprach von “Aktionärsjournalismus”.

Der von “Bild” in den vergangenen drei Wochen viermal in Sachen Mindestlohn zitierte Präsident des neuen Arbeitgeberverbandes “Neue Brief- und Zustelldienste”, Florian Gerster, ist übrigens laut “FAZ” auf Druck von Springer an diese Position gekommen.

Vielen Dank an alle Hinweisgeber!

Fortsetzung hier…

Allgemein  

Fall Barschel: “Bild” hat den Farbfilm vergessen

Das ist sehr erstaunlich, was “Bild”-Chefreporter Hans-Jörg Vehlewald heute über einen Artikel schreibt, der die verschiedenen Theorien über den Tod von Uwe Barschel zusammenträgt:

Ein “neues Tatort-Foto” soll es geben? Ein “bisher unveröffentlichtes Polizeifoto, das den Tatort aus neuer Perspektive und erstmals in Farbe zeigt”? Und der “Spiegel” soll es “jetzt”, 20 Jahre nach dem Tod Barschels, erstmals zeigen?

Beim “Spiegel” weiß man nichts davon. Das Foto Barschels, das im aktuellen Heft abgedruckt ist (unten rechts) ist dasselbe, das der “Spiegel” bereits am 13. Oktober 1997, zum zehnten Todestag gezeigt hatte (unten links):

Das Foto ist zwar in einer besseren Qualität reproduziert. Irgendwelche neuen Erkenntnisse über die verschiedenen Mord- und Selbstmord-Thesen sind mit ihm aber nicht verbunden.

Neue Perspektive? Und erstmals in Farbe? Sollte “Bild” bislang nur ein einziges Foto des toten Uwe Barschel gekannt haben? Das, das jeder kennt? Aber über neue Erkenntnisse im Fall Barschel berichten wollen!

Vielen Dank an den Hinweisgeber!

Kontinent des Lächelns II

Heiteres Synonyme-Raten in der Kategorie “Länder” ist nicht die Stärke von “Bild”.

Vereinigte Staaten? — “Land der unbegrenzten Möglichkeiten.”
Österreich? — “Alpenrepublik.”
Japan? — “Land des Lächelns.” — *Möööp*

Okay, nochmal:

Vereinigte Staaten? — “Land der unbegrenzten Möglichkeiten.”
Österreich? — “Alpenrepublik.”
Japan? — *Möööp*

Die Übung “Aus Fehlern lernen” ist auch nicht die Stärke von “Bild”.

Mit Dank an Spießer A.!

“Bild” spielt Foul

Was denkt sich Ashkan Dejagah (21) nur dabei?

Das fragt “Bild” heute, weil der im Iran geborene Bundesliga-Profi seine Teilnahme am Länderspiel der deutschen U21-Mannschaft in Israel abgesagt hat. Aus “politischen Gründen”, wie er erklärt: “Jeder weiß, dass ich Deutsch-Iraner bin…”

Was denkt sich Ashkan Dejagah (21) nur dabei?

“Bild” schlägt folgende Antwort vor:

(…) die Absage legt den Eindruck nahe, dass Dejagah mit dem iranischen Machthaber Mahmud Ahmadinedschad sympathisiert. Der “Irre von Teheran” droht Israel mit der nuklearen Vernichtung. Außerdem hat er iranischen Sportlern ausdrücklich verboten, gegen israelische Athleten anzutreten.

Angesichts dieser Interpretation ist es natürlich kein Wunder, dass “Bild” zu dem Schluss kommt:

BILD meint: Wer ein Länderspiel in Israel aus politischen Gründen absagt, darf nie wieder für Deutschland spielen!

Was “Bild” nicht schreibt: Ashkan Dejagah hat Verwandte, die im Iran leben; sein Bruder spielt bei Paykan Teheran*. Es ist nicht auszuschließen, dass sie mit Sanktionen rechnen müssten, wenn Dejagah in Israel spielt. Er hat nicht nur einen deutschen, sondern auch einen iranischen Pass, und der Iran verbietet seinen Staatsbürgern die Einreise nach Israel. Dejagah muss damit rechnen, nicht mehr in den Iran zu seiner Familie reisen zu dürfen, wenn er an dem Spiel der U21 teilnimmt.

An all dem ändert sich nichts, wenn der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Friedbert Pflüger ihm laut “Bild” verspricht, für ihn “würde in Israel alles für seine Sicherheit getan werden”.

Natürlich kann man Dejagahs Absage trotzdem falsch finden und von ihm eine schnelle Entscheidung verlangen, ob er in der deutschen oder der iranischen Nationalmannschaft spielen will. Aber man sollte diese Fakten kennen, bevor man sein Urteil fällt. Die “Bild”-Zeitung verschweigt sie und verhindert, dass ihre Leser überhaupt eine Grundlage haben, um die Frage fair zu beantworten:

Was denkt sich Ashkan Dejagah (21) nur dabei?

Mit Dank an farry2003.

*) Korrektur, 14. Oktober. Dejagah betont in einem Interview mit stern.de, dass sein Bruder nicht für den Teheraner Verein Paykan spielt, sondern in Berlin lebt. Wir sind einer offenbar weit verbreiteten Fehlinformation aufgesessen und bitten dafür um Entschuldigung.

Wer “Bild” nicht liest, spart künftig mehr

ALLES TEURER! Rentner leiden am meistenSo titelte “Bild” am Dienstag, und es stimmt ja: Denn “Bild” kostet bald mehr. Vom kommenden Montag an zum Beispiel in Stuttgart 60 statt 50 Cent. Das entspricht einer Preissteigerung von zwanzig Prozent, was die vieldiskutierten Preiserhöhungen bei Brot und Milch vergleichsweise läppisch wirken lässt.

Gegenüber den Stuttgarter Einzelhändlern begründete der Verlag nach unseren Informationen die Preiserhöhung mit den allgemeinen Kostensteigerungen und den “umfangreichen Investitionen in das Blatt”. Der Schritt sei die “notwendige Folge der fortgesetzten Qualitätssteigerung des Titels”, denn “auch weiterhin” würden über 800 Journalisten jeden Tag für “exklusive Nachrichten, die besten Storys und die bewegendsten Fotos” sorgen.

Was 2007 alles teurer wird

“Bahn erhöht die Preise! … und Fliegen wird auch teurer” — “Autofahren immer teurer!” — “Schweinefleisch 30% teurer!” — “SCHLUCK! Bier wird teurer” — “PREIS-SCHOCK! Lebensmittel deutlich teurer” — “Apfelsaft 50 Prozent teurer” — “Strom wird noch teurer!” — “Immobilien werden teurer” — “Käse bald teurer” — “Milchprodukte teurer” — “Schuhe werden teurer” — “Süßigkeiten teurer” –“Heizöl sauberer und teurer” — “Margarine wird teurer” — “Möbel deutlich teurer”

(Seite-1-Überschriften aus “Bild”)

Da der Verlag sich offenbar nach eigenen Angaben zu Fragen der Preispolitik grundsätzlich nicht äußert (ebenso wie übrigens zu Personalfragen, juristischen Fragen, interessanten Fragen und unangenehmen Fragen), wissen wir nicht, an welchen Orten außer Stuttgart von Montag an der erhöhte Preis gilt.

Aber vielleicht kriegen wir das mit vereinten Kräften heraus. Fragen Sie einfach den Kioskbesitzer Ihres Vertrauens, schicken Sie uns eine Mail, und wir tragen die Ergebnisse zusammen.

Zwischenstand: Die Lage ist unübersichtlich. Die Preiserhöhung von 50 auf 60 Cent gilt außer für Stuttgart wohl auch für Hamburg, Frankfurt und die Bundesausgabe. In Chemnitz wurde der Preis offenbar von 30 auf 40 Cent erhöht. U.a. in Berlin, Aachen und Mecklenburg-Vorpommern scheint “Bild” nach wie vor 50 Cent zu kosten.

Mit Dank an Bastian D., M.P., Christiane H., Stephan F., Thomas C., Tim W., Michael H. und Heiner H.!

Heino ist tot (Arbeitstitel)

Die “Bild”-Zeitung arbeitet anders als andere Medien, und manchmal erschrickt sie ein bisschen, wenn sie es selbst merkt.

Gestern hat “Bild”-Redakteur Mark Pittelkau offenbar zum ersten Mal erfahren, dass bei anderen Medien vorbereitete Nachrufe auf diverse noch sehr lebendige Persönlichkeiten bereit liegen, die sie bei einem unerwarteten Todesfall schnell veröffentlichen können. Das ist Alltag in vielen Redaktionen, auch bei der von ARD-aktuell, die die “Tagesschau” und die “Tagesthemen” produziert. Die Personen, die so wichtig sind, dass für sie ein Nachruf zu Lebzeiten produziert wird, stehen dort auf der “XY-Liste”. “X” steht für Leute, bei deren Tod das Programm sofort unterbrochen wird (Bundespräsident, Kanzler), “Y” für Menschen, die nach ihrem Tod in den “Tagesthemen” gewürdigt werden sollen. Geheim ist die Existenz dieser Liste nicht; der “Stern” hat 1978 schon mal alle 250 damals dort verzeichneten Namen veröffentlicht.

Jedenfalls gilt auch der Schlagersänger Heino der ARD als wichtig genug für einen Nachruf, wovon dessen Manager in diesen Tagen erfuhr. Und weil Heino, wie die “Bild”-Zeitung ausführlich berichtete, vor drei Wochen einen Zusammenbruch hatte, im Krankenhaus liegt und angeblich sogar “Todesangst” hatte, rührte Mark Pittelkau daraus schnell einen hübschen Aufreger über die “makabere” und womöglich “pietätlose” Praxis der ARD an:

KRANKER VOLKSMUSIK-STAR ENTSETZT: ARD arbeitet schon an Heinos Nachruf!

“Ganz offenbar hat die Nachruf-Produktion bei der ARD Methode”, schrieb Pittelkau zutreffend, aber erstaunlich erstaunt. Und weil der zuständige NDR-Sprecher “Bild” dazu offenbar nichts sagen wollte, zitierte Pittelkau stattdessen aus einem Eintrag von ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke im Tagesschau-Blog vor ein paar Monaten, in dem der die Praxis ausführlich erläuterte. (Trotz der schriftlichen Vorlage schaffte Pittelkau es übrigens nicht, Namen und Funktion Gniffkes korrekt abzuschreiben.)

Dafür, dass Heino “entsetzt” ist, gibt es in “Bild” übrigens keine Anzeichen. Er sei im Giftschrank mit den anderen vorproduzierten Nachrufen doch in bester Gesellschaft: “Ganz offensichtlich kommen da ja nur Hochkaräter rein”, sagte er laut “Bild”.

Außer Heino befinden sich dort nach unseren Informationen u.a. Madonna, Jogi Löw und sämtliche Ministerpräsidenten.

Kai Diekmann ist nicht dabei.

(Auch das Online-Medienmagazin DWDL staunt ausführlich über diesen “journalistischen Totalausfall”.)

Allein gegen die Mafia

Auf interessante Widersprüche stößt, wer den Fehler macht, sich auf Bild.de über die neuen Regeln beim Eurovision Song Contest informieren zu wollen. Einerseits heißt es da:

Gegen die Stimmen-Schacherei. (…)

Wird der Schlager-Grand-Prix endlich wieder ein fairer Wettbewerb? (…)

Weil sich die osteuropäischen Länder frech die Punkte zuschoben, landete unser Sänger Roger Cicero (36) in Helsinki nur auf Platz 19.

Die Stimmen-Mafia aus dem Osten soll jetzt mit neuen Regeln gestoppt werden.

Und andererseits steht im selben Artikel:

Massive, von unabhängigen Experten aber zurückgewiesene, Kritik kam aus westeuropäischen Ländern auch, weil der Wettbewerb angeblich durch das gegenseitige “Zuschanzen” von Punkten innerhalb der osteuropäischen Länder für die westeuropäischen Teilnehmer nicht mehr zu gewinnen sei.

(Alle Hervorhebungen von uns.)

Der Widerspruch lässt sich leicht erklären: Das zweite Zitat stammt wörtlich aus einer dpa-Meldung, die den Kern des Artikels bildet. Um daraus eine Bild.de-Meldung zu machen, haben die Autoren einfach den Unsinn vom unfairen Wettbewerb und einer Ost-“Mafia” dazu geschrieben.

An der Dominanz der osteuropäischen Länder in diesem Jahr hätte sich, wie berichtet, fast nichts geändert, wenn nur westeuropäische Länder hätten abstimmen dürfen. Und in den beiden Vorjahren hatten keine Länder des ehemaligen Ostblocks gewonnen.

Auch der letzte Satz des Bild.de-Artikels stammt nicht von den Agenturen. Er lautet:

Die neuen Regeln beim Grand Prix lassen nun hoffen, das auch wir endlich wieder eine faire Chance haben, den Wettbewerb zu gewinnen.

Lassen sie das? Die Änderungen betreffen fast ausschließlich die Qualifikation für das Finale. In diesem Jahr hatten sich dabei nur osteuropäische Länder durchsetzen können. NDR-Redakteur Manfred Witt erklärt die Änderungen deshalb so: “Das ist ein Versuch, das Finale ausgeglichener zu besetzen.” Deutschland ist aber ohnehin — wie bisher — für das Finale gesetzt. An “unseren” Chancen werden die neuen Regeln also vermutlich wenig ändern.

Allgemein  

Die große Unbekannte

…begrüßen wir besonders die neuen Teilnehmer an unserem beliebten Gymnastik-Kurs “Geistige Beweglichkeit mit Franz Josef Wagner”. Sind Sie locker? Fein, dann beginnen wir sofort mit einer 180-Grad-Dehnungsübung. Herr Wagner, machen Sie’s wieder vor?

Franz Josef Wagner, “Bild”, 15. August 2007:

Ich denke, wir brauchen einen Bildungsminister. Wenn wir schon jemanden haben, dann kenne ich seinen Namen nicht.

Franz Josef Wagner, “Bild”, 27. September 2007:

Die großen Frauen der Republik heißen Frau Merkel, Frau Schavan, Alice Schwarzer, Claudia Roth, Frau von der Leyen.

(Links natürlich von uns.)

Vielen Dank an Adrian C.!

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