Sie haben wirklich nichts unversucht gelassen bei “Bild” am gestrigen Morgen:
Das Kleingedruckte lautete:
Einfach widerlich! Kindermörder Magnus Gäfgen (35) fordert Schmerzensgeld! Grund: Ihm wurde in Polizeiverhören Folter angedroht, um das Leben seines Opfers Jakob von Metzler (verstorben 11) zu retten. Heute muss das Landgericht Frankfurt/Main entscheiden: Bekommt der Killer 10 000 Euro? Herr Richter, bitte lassen Sie das nicht zu!
Tatsächlich kann man es widerlich finden, dass Gäfgen, rechtskräftig verurteilter Kindesentführer und -mörder, Schmerzensgeld vom Land Hessen forderte, weil ihm Polizisten beim Verhör mit Folter gedroht hatten. Doch es ist die Aufgabe der Justiz, zu überprüfen, ob das, was widerlich ist, trotzdem auch rechtens sein kann.
Und letztlich entsprach der Richter mit seinem Urteil (hoffentlich unbewusst) ein Stück weit der Forderung von “Bild”: Statt der geforderten mindestens 10.000 Euro bekam Gäfgen 3.000 Euro zugesprochen (Pressemitteilung zum Urteil als PDF), vier Fünftel der Gerichtskosten muss er selbst tragen.
Doch irgendwie hat all das “Bild” nicht besänftigen können. Die Zeitung liegt heute so am Kiosk:
Um den Autoren Horst Cronauer und Tim Thorer gleich mal ihre drängendste Frage zu beantworten: Die Art Land, in der wir hier leben, nennt sich “Rechtsstaat”. Die Frage “Herr Richter, warum geben Sie diesem Mörder auch noch Geld?” ist mindestens infam, weil sie suggeriert, Gäfgen bekomme das Geld gleichsam als Belohnung für den Mord.
Die wenigen “Bild”-Leser, die nach der Lektüre der Überschrift noch nicht mit Fackeln und Forken vor der Tür des Richters stehen, könnten im Artikel dann erfahren, dass Gäfgen eigentlich gar nicht so richtig gewonnen hat:
Doch Gäfgen, der sogar 10 000 Euro Schmerzensgeld plus Schadenersatz verlangt hatte, bekam nicht in allen Punkten recht. Gäfgen sei nicht durch das Verhör traumatisiert worden, erklärte das Gericht, sondern durch sein eigenes Verbrechen und den Einsturz seines aus “Lügengeschichten und Luftschlössern bestehenden Selbstbildes”.
Und: Von der Entschädigung (inklusive Zinsen 3410,25 Euro) wird er nicht einen Cent sehen! Oberstaatsanwältin Doris Möller-Scheu: “Gäfgen hat aus dem Mordprozess noch 71 000 Euro bei der Justizkasse offen. Die muss er erst begleichen.”
Trotzdem lobt der Anwalt des Mörders, Michael Heuchemer, die Entscheidung als “wichtiges Signal für die Menschenrechte”!
Florian von Heintze wettert in seinem Kommentar, das Urteil sei eine “Perversion des Rechtsstaates”, dabei ist es genau das nicht. Man mag Gäfgens Zivilklage “unsensibel” finden, “zynisch”, “schamlos” oder “verachtenswert”, aber es war sein Recht zu klagen und das Gericht hatte aufgrund der Rechtslage und ohne Ansehen der Person zu entscheiden.
Heintzes argumentativer Eiertanz endet mit einer rhetorischen Frage, die er haarscharf falsch beantwortet:
Natürlich ist schon die bloße Androhung von Folter rechtswidrig. Aber rechtfertigt das wirklich eine Geldzahlung an einen verurteilten Mörder?
Mit diesem Urteil hat sich der Rechtsstaat ad absurdum geführt.
Der Rechtsstaat an sich funktioniert wunderbar, das hat das Urteil bewiesen. Die Frage, wie sachdienlich oder nachvollziehbar das Urteil war, kann man natürlich trotzdem verhandeln, wie es etwa Heribert Prantl in der “Süddeutschen Zeitung” getan hat.
Dass Friedrich von Metzler, Vater des Mordopfers Jakob, sich von “Bild” mit den Worten zitieren lässt, das Urteil empöre ihn “zutiefst” und seine Familie verstehe es nicht, ist menschlich nachvollziehbar.
Schwerer verheddert sich da schon Helmut K. Rüster, Sprecher der Opferschutzorganisation “Weißer Ring” und gern gesehener Stichwortgeber von “Bild”, in seiner Argumentation:
“Wenn ein Kindesmörder sich lediglich auf eine Drohung hin auf Todesangst berufen kann und daraufhin aus der Staatskasse Geld bekommt, dann stimmt etwas nicht mehr in unserem Rechtsverständnis.”
Nach der gleichen Logik dürfte auch ein Täter nicht verurteilt werden, dessen Opfer angibt, “lediglich auf eine Drohung hin” Todesangst ausgestanden zu haben. Eine steile These für den Sprecher eines Opferverbandes.
Überraschend treffend (wenn auch mutmaßlich anders gemeint) fasst der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, die Situation zusammen:
“Das Urteil lässt die eigentliche ungeheuerliche Tat – die Ermordung eines Kindes – in den Hintergrund treten.”
Das Urteil sicher nicht — der Richter ist ja durchaus noch einmal auf Gäfgens Taten eingegangen. Aber die Berichterstattung darüber.
Und welche Folgen die hat, kann man heute schön an den (sicherlich eher zufällig ausgewählten) Leserbriefen in “Bild” sehen:
Andererseits ist das schon ein ganzes Stück besonnener als das, was “Bild”-Leser im März an die Zeitung schrieben:
Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.
* Nachtrag, 16.30 Uhr: Außerdem darf die Staatsanwaltschaft Gäfgens Entschädigung gar nicht mit seinen Schulden verrechnen, wie Udo Vetter im Lawblog schreibt.