Vor einem Jahr versuchte die “Bild”-Zeitung am Tag nach dem Eurovision Song Contest eine große Kampagne gegen die ARD zu starten. Sie forderte ihre Leser auf, sich mit einem vorbereiteten Beschwerdecoupon ihre Rundfunkgebühren “zurückzuholen”, weil die Show eine an “Inkompetenz nicht zu überbietende TV-Katastrophe” gewesen sei.
Weil sich die “Bild”-Zeitung in Sachen Inkompetenz aber so schnell von niemandem die Butter vom Brot nehmen lässt, stützte sie ihren Vorwurf auf einen erstaunlichen Wust falscher Behauptungen. Vom Erfolg der großen Beschwerde-Aktion war später in “Bild” nichts mehr zu lesen — dafür aber anderswo.
Nun war wieder Song Contest, und das, was “Bild” von der Veranstaltung berichtet, lässt sich durch Inkompetenz kaum erklären. Eher durch einen Willen zur Desinformation. “Bild” staunt über den Erfolg der als Monster verkleideten Band Lordi und tut so, als hätte Österreich in weiser Voraussicht abgeschaltet:
In Österreich wurde der Grand Prix gar nicht übertragen (…).
ORF-Unterhaltungschef Edgar Böhm (52): “Wir wollten keine Auftritte zeigen, für die sich jemand genieren muß.”
Der erste Satz ist schlicht falsch: Der ORF übertrug “das musikalische Megaevent” wie immer live auf ORF 1. Und weil das so ist, kann auch das zweite Zitat nicht stimmen — jedenfalls muss Herr Böhm es anders gemeint haben. In der Tat: Böhm sprach in einem Interview mit dem “Kurier” nicht von Auftritten wie dem von Lordi, die er nicht zeigen wolle, sondern von potentiell peinlichen österreichischen Auftritten. Österreich schickte diesmal keinen eigenen Teilnehmer. Das Niveau der Veranstaltung sei so, dass man “keinen ernst zu nehmenden Musiker” zum Mitmachen ansprechen könne: “Wir sind es aber den Künstlern, den Sehern und unserem Land schuldig, dass es beim Contest Auftritte gibt, für die sich niemand genieren muss.”
Außer dem ORF zitiert die “Bild”-Zeitung auch Spiegel Online als Kronzeugen für das Verkommen der Veranstaltung und behauptet:
“Spiegel online” schrieb entsetzt: “Der Eurovision Song Contest hat sein Gesicht verloren, um eine Fratze zu bekommen.”
“Bild” hat das Zitat böswillig seines Zusammenhanges beraubt. Spiegel Online ist belustigt und angetan — von “Entsetzen” keine Spur:
(…) ein Eurovisions-Finale, das ausgerechnet von den finnischen Trashrockern Lordi beflügelt wurde.
Der Eurovision Song Contest hat sein Gesicht verloren, um eine Fratze zu bekommen. Man kann dies bedenklich finden. Oder amüsant. (…)
Mit 292 Punkten ehrte das europäische Publikum den hohen Unterhaltungsfaktor der Band — und setzte ein Zeichen gegen Balladen-Seligkeit (…).
Wer sich heute aufschwingen will zum Gipfel der gesamteuropäischen Schlagerwelt, braucht Flügel. Guten Flug, Monstermann.
Bereits am Sonntag übte sich Bild.de bei dem Thema im Zitateverkürzen und schrieb:
“Wir können ja nur gewinnen”, meinte Sänger Lordi selbstbewußt vor der Show — und er behielt recht.
Unwahrscheinlich, dass er das so gemeint hat. Die International Herald Tribune zitierte ihn mit den Worten: “Even if we lose the contest, we have already won.” Bei esctoday.com und Laut.de liest es sich ähnlich: “Wir haben doch schon längst gewonnen! Soviel Aufmerksamkeit hat eine finnische Gruppe beim Contest noch nie bekommen.”
Den Versuch, den Text des Siegertitels zu übersetzen, scheint “Bild” übrigens mittendrin abgebrochen zu haben — noch bevor sich jemand zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden konnte.
PS: “Bild” behauptet auch, in Griechenland sei das Lordi-Video “verboten” worden. Auch das ist offensichtlich Unsinn. Wir konnten nichts entsprechendes finden. Weiß einer unserer Leser, ob das Video in Griechenland gezeigt wurde — und wenn nein, warum nicht? (Mehr dazu hier.)
Danke an Stefan M., Tobias J., Andreas M., Christian S., Frederik P., Manuel K., Tim W. und Herbert G.
(Mehr über die Song-Contest-Kompetenz der “Bild”-Zeitung steht hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier.)
Nachtrag, 14.55 Uhr. Bild.de hat den Artikel aus der heutigen Zeitung jetzt unter einer neuen Adresse veröffentlicht. Am Anfang stehen einige neue Sätze über eine Leserumfrage. Dafür hat Bild.de alles, was sich auf Österreich bezog, unauffällig aus dem Text herausgefräst.