Noch bevor heute um elf Uhr der Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) offiziell vorgestellt wurde, hatte “Bild” schon in ihm, nun ja: geblättert und eine riesige Titelgeschichte daraus gemacht (siehe Ausriss).
Die Zeitung zitiert einige schockierende Fakten aus dem 212 Seiten langen Bericht. Genauer: von den Seiten 66 und 67. Zum Beispiel diese:
- In Heimen wird jeder dritte Patient (35,5 %) nicht häufig genug umgebettet. Folge: Er liegt sich wund (Dekubitus). (…)
- Jeder dritte Pflegefall (…) bekommt nicht genug zu essen und zu trinken! Grund: Zeitnot. Dass die Pflegebedürftigen rapide an Gewicht verlieren, stellt das Pflegepersonal angeblich nicht fest.
Um mit der guten Nachricht anzufangen (die für alle Betroffenen eine schlechte ist): die Zahlen stimmen. Aber eben nur die Zahlen an sich.
Zum Dekubitus heißt es im Bericht des MDS ausdrücklich:
Bei 35,5 % der Personen bestanden Defizite. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Dekubitus entstanden sein muss. Gemeint ist vielmehr u.a., dass ein Dekubitusrisiko nicht ermittelt oder nicht erkannt worden ist, dass keine prophylaktischen Maßnahmen geplant oder keine entsprechenden Hilfsmittel eingesetzt worden sind.
(Alle Hervorhebungen von uns)
Der Anteil der Patienten, bei denen solche Defiziten bei der Prophylaxe gegen das Wundliegen bestanden, ist sicherlich schockierend hoch. “Bild” unterschlägt aber, dass diese Anteil gegenüber der letzten Studie deutlich gesunken ist: um über sieben Prozentpunkte.
Zur Ernährung steht im Bericht:
Bei 65,6 % der im 1. HJ 2006 in die Prüfung eingezogenen Bewohner lagen bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung keine Qualitätsprobleme vor. Bei 34,4 % der Personen wurden Mängel festgestellt. Auch hier sind diese Mängel nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer eingetretenen Unterernährung oder einer Dehydratation.
Eine Einschränkung, die “Bild” ebenso unterschlägt wie den Hinweis, dass sich der Anteil der Defizite sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege verringert hat. Und das gilt (wenn auch in einem Fall nur um 0,1 Prozentpunkte) für jede einzelne Zahl, die “Bild” heute präsentiert. “Bild” schreibt:
Ihren letzten Pflege-Prüfbericht hatten die Krankenkassen 2004 vorgelegt. Schon damals eine Bilanz des Grauens!
Geändert hat sich wenig.
Nun könnte man über die Bedeutung des Wörtchens “wenig” sicherlich lange diskutieren und beim Thema Pflege ist wohl jedes “Defizit” eines zuviel. Allein: “Bild” reduziert die durchaus vorhandene Verbesserung der Situation auf einen Satz mit vier Wörtern.
Entsprechend verärgert war man beim MDS über die eigenwillige Interpretation der “Bild”-Zeitung seines Berichts, die von fast allen Nachrichtenagenturen unter Überschriften wie “‘Bild’: Neuer Prüfbericht der Krankenkassen deckt Pflege-Skandal auf” verbreitet wurden, bevor der MDS widersprechen konnte. “Spiegel Online” zitiert den MDS-Geschäftsführer Peter Pick mit den Worten:
“Im Vergleich zum ersten Bericht vor drei Jahren gibt es bei allen Versorgungskriterien Verbesserungen.”
“Bild”-Leser können das nicht einmal ahnen.
Danke an Michael R., Florian S., Jenny R., Benjamin S. und Susann für die sachdienlichen Hinweise.