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Heute beginnt das Kandidatinnen-Vergessen

Wenn Ralf Schuler mal nicht Witze der Flensburger Linksfraktion als ernstgemeinte Vorschläge miss­in­ter­pre­tie­rt, Burger-Interviews führt oder den Untergang des Abendlandes an Weihnachten herbeisingt, schreibt er als Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros über Politik. Zusammen mit “Bild”-Politik-Chef dem leitenden “Bild”-Politik-Redakteur Rolf Kleine hat er heute eine Prognose zur Nominierung der Kandidaten für die im kommenden Jahr anstehende Bundespräsidentenwahl geliefert:

Die zwei “Bild”-Polit-Profis haben sich schon mal festgelegt, wer nicht Kandidat werden wird: Außenminister Frank-Walter Steinmeier (den wolle Angela Merkel nicht) und Bundestagspräsident Norbert Lammert (der habe nicht genug Anhänger).

Aber wer dann? Schuler und Kleine haben da so ihre Infos:

Union und SPD gehen nach BILD-Informationen davon aus, dass Merkel in den nächsten Wochen einen dritten “unparteiischen” Kandidaten präsentieren wird, der für alle GroKo-Delegierten in der Bundesversammlung (setzt sich überwiegend aus Abgeordneten des Bundestages und der Landtage zusammen) wählbar ist. Denkbar wäre z. B. ein hochrangiger, anerkannter Wissenschaftler.

In der SPD heißt es zudem: Wenn Merkel “eine einigermaßen akzeptable Frau” als überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue präsentiere, könnten zumindest die GenossINNEN kaum Nein sagen.

Das wär’ was — die “überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue”. Also nach Beate Klarsfeld, die 2012 gegen den derzeitigen Bundespräsidenten Joachim Gauck angetreten ist.

Und nach Luc Jochimsen, die 2010 angetreten ist.

Und nach Gesine Schwan, die 2009 angetreten ist.

Und noch mal nach Gesine Schwan, die auch schon 2004 angetreten ist.

Und nach Dagmar Schipanski, die 1999 angetreten ist.

Und nach Uta Ranke-Heinemann, die ebenfalls 1999 angetreten ist.

Und nach Hildegard Hamm-Brücher, die 1994 angetreten ist.

Und nach Luise Rinser, die 1984 angetreten ist.

Und nach Annemarie Renger, die 1979 angetreten ist.

Marie-Elisabeth Lüders war zwar nie offiziell angetreten, bekam bei der Bundespräsidentenwahl 1954 allerdings eine Stimme.

Aber von denen mal abgesehen, haben Ralf Schuler und Rolf Kleine mit ihrer Aussage recht.

Mit Dank an C. F. und Tobias N. für die Hinweise!

Die Anschläge von Brüssel im Breaking-News-Modus

Es ist zum Verzweifeln. Da passieren so unfassbar schlimme Dinge, und dann kommen Journalisten und berichten, als hätten sie aus all den bisherigen Katastrophen nicht das Geringste gelernt.

Aber wir wollen mit einem Positivbeispiel anfangen. Ein paar Medien haben gestern in unseren Augen einen richtig guten Job gemacht. Besonders aufgefallen ist uns “Zeit Online”, wo den ganzen Tag über sorgfältig und unaufgeregt erklärt wurde, „was wir wissen“ …

… und was nicht:

Viele andere Medien haben dagegen wieder den gewohnten Weg eingeschlagen, den mit Krach und ohne Besinnung.

***

Liebe Zuschauer, anlässlich der Terroranschläge in Belgien haben wir den gewohnten Programmablauf verändert und senden jetzt im Breaking-News-Modus.

Und da haben wir schon das erste Problem: Sie versprechen Breaking News, also brauchen sie Breaking News, und wenn es keine Breaking News gibt, na dann … nehmen sie halt irgendwas.



Wenn selbst die Börse nix hergibt, kann man ja immer noch irgendeinen Experten befragen, der dann alle “möglichen Szenarien” durchgeht und die “denkbaren Motive” der “angeblichen Attentäter” skizziert oder Sachen sagt wie …

Das ist natürlich jetzt alles Spekulation, aber es sieht ganz danach aus, dass das so ist.

Oder man kann, wie n-tv, zu einem Reporter schalten, der „nur 300 Kilometer von Brüssel entfernt“ steht, nämlich am Frankfurter Flughafen, um zu berichten, dass auch in Frankfurt „die Angst ein bisschen mitfliegt“.

Mutmaßungen werden zu Cliffhangern und Clickbaits, jede Kleinigkeit zur +++Sensation+++

***

Doch das ist alles nicht so tragisch, wenn die Fakten wenigstens stimmen.

Dieses Video wurde gestern Vormittag von vielen Medien verbreitet. Zunächst von belgischen wie dem Sender VRT.

Kurz darauf (unter anderem) vom ZDF:

… von RTL …

… Phoenix …

… „Focus Online“ …

… der „Huffington Post“ …

… dem „Kurier“ in Österreich …

… “TMZ” in den USA …

… stern.de …

… und der „Tagesschau“:

Als Quelle steht da: „Überwachungskamera“. Stimmt. Nur: Dieses Video aus dieser Überwachungskamera ist fünf Jahre alt und zeigt einen Anschlag in Russland. Irgendwer hat einfach das Datum von gestern eingebaut und das Video neu bei Youtube hochgeladen.

Und es wäre kein Hexenwerk gewesen, das herauszufinden. Es gibt einfache Tools, mit denen man Videos überprüfen oder im Internet nach ähnlichen Bildern suchen kann. Auch mit der umgekehrten Bildersuche von Google lässt sich sehr schnell checken, ob Fotos oder Videos früher schon mal irgendwo hochgeladen wurden.

In diesem Fall hätten die Medien außerdem schon allein wegen des Zeitpunkts misstrauisch werden müssen. So ein Video kann ja eigentlich nur von der Polizei oder vom Sicherheitspersonal des Flughafens kommen, und die hatten so kurz nach dem Anschlag sicherlich Besseres zu tun, als Überwachungsvideos bei Youtube hochzuladen.

Inzwischen haben die meisten Medien das Video kommentarlos gelöscht. Der Sender VRT hat sich immerhin entschuldigt:

Und die „Huffington Post“ hat aus dem ursprünglichen Clickbait …

… einen neuen gebastelt:

***

Besonders panisch wurde es gestern, als diese „erschreckende Meldung“ (n-tv) reinkam:

Der Moderator gab sich geschockt — und große Mühe, dieses Gefühl auch bei den Zuschauern auszulösen:

Ein Atomkraftwerk ist natürlich ein Anschlagspunkt … da stehen einem die Haare zu Berge!

Kaum vorstellbar, dass es zu einem atomaren Zwischenfall kommen könnte, provoziert durch Terroristen!

Allein die Vorstellung ist natürlich ein absolutes Horrorszenario!

Tatsächlich war die Sache weit weniger dramatisch. „Zeit Online“ schrieb kurz nachdem die Meldung herumgereicht worden war:

Entwarnung aus den Atomkraftwerken in Belgien: Der Betreiber Electrabel hat klargestellt, dass keine Evakuierung laufe. Vielmehr seien auf Anforderung der Behörden alle Mitarbeiter, die nicht zwingend für den Betrieb benötigt würden, gebeten worden, nach Hause zu gehen. Der Schritt sei aus Sicherheitsgründen erfolgt.

Der Betreiber selbst twitterte:

Außerdem rieten die Behörden nicht nur den Atomkraftwerken, sondern auch anderen Einrichtungen, ihre Mitarbeiter nach Hause zu schicken, der Universität zum Beispiel, auch der Justizpalast wurde evakuiert. In die Eil-Schlagzeilen schaffte es aber nur das hier:

***

Was bei der post-katastrophalen Breaking-News-Raterei selbstverständlich nicht fehlen darf, sind Mutmaßungen über den oder die Täter.

Der Schweizer „Blick“ präsentierte schon um 13 Uhr, als noch so gut wie gar nichts feststand, einen Kandidaten:

(Der Mann ist der mutmaßliche Komplize des Terroristen, der am Freitag in Brüssel festgenommen wurde.)

Ein paar Stunden später hatten auch deutsche Medien drei Verdächtige ausgemacht:

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei immer noch keine offiziellen Fahndungsfotos veröffentlicht.

… und trotzdem wurde es sofort verbreitet.


Erst zwei Stunden später veröffentlichte die belgische Polizei offizielle Fahndungsfotos, auf denen dieselben Männer zu sehen sind.

***

Und dann gab’s natürlich: Opferfotos.

Die Leute von „Bild“ vertreten ja die Auffassung, dass man Selbstzensur betreibe und ein Feind der Pressefreiheit sei, wenn man Menschen verpixelt oder auf die Nennung grausamer Einzelheiten verzichtet. Weil man die Welt dann nicht so zeige, wie sie ist.

Nachdem „Bild“-Reporter Alexander Blum einige Fotos von Verletzten getwittert hatte und dafür kritisiert worden war, schrieb er:

Nach der Logik der „Bild“-Menschen ist es in Ordnung, ja sogar notwendig, die Gesichter von Opfern zu zeigen, ihre Verletzungen, das Blut, den HORROR in all seinen grausamen Details. Denn wer verpixelt, der verhindere, dass der Schrecken ein Gesicht bekommt. Wer verpixelt, schade den Opfern.

Darum zeigt „Bild“ — alles.

(Unkenntlichmachung — auch in allen anderen Screenshots — von uns.)

Einige davon wurden auch groß auf der Startseite gezeigt.



Auch in der Print-Ausgabe hat „Bild“ heute welche abgedruckt: Großaufnahmen von schwer verletzten Menschen, panische, blutüberströmte, unverpixelte Gesichter.

Eines der Fotos zeigt eine Frau, die sich kurz nach der Explosion auf einer Bank festklammert, die Schuhe zerfetzt, die Bluse zerrissen, man sieht ihren BH, ihren nackten Bauch, ihr blutiges Gesicht, das direkt in die Kamera guckt.

„Bild“ hat es gestern auf der Startseite präsentiert und heute groß in der Print-Ausgabe (oben links):

Und es diente „Bild“-Online-Chef Julian Reichelt als Hintergrundkulisse für ein Interview:

Und weil wir wissen, dass hier einige “Bild”-Menschen mitlesen, zum Schluss eine Bitte: Stellen Sie sich nur mal kurz vor, die Frau, die da liegt, nach einer Explosion, blutend, hilflos, völlig geschockt, in Unterwäsche, das wäre Ihre Mutter. Und dann würde jemand ein Foto von ihr machen und es mit der ganzen Welt teilen. Stellen Sie sich das nur mal vor.

Mit Dank an Bernhard W.

Siehe auch: “Im Panikorchester” (uebermedien.de)

Das “Kollaps”-Drama von Bayreuth: Merkel fällt vom Stuhl

Sie müssen sich sehr beeilt haben bei der “Bild am Sonntag”. So schafften sie es noch, die dramatische Meldung vom späten Samstagabend in einem Teil ihrer Auflage unterzubringen:

Das Drama in Bayreuth spielte sich in diesem Jahr nicht nur auf der Bühne ab. Nach Informationen von bild.de erlitt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei den Bayreuther Festspielen einen Kollaps!

(…) Um 16 Uhr beginnt “Tristan und Isolde”. Gegen 17.20 Uhr ist der erste Akt zu Ende. Während der Kaffeepause fällt die Kanzlerin in Ohnmacht, rutscht von ihrem Stuhl. Zwei Minuten soll es gedauert haben, bis Merkel wieder auf die Beine kommt. Die Menschen an ihrem Tisch kümmern sich um sie. Unter anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert und Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Offenbar war es ein ähnlicher Kollaps wie beim CDU-Parteitag in Köln, damals ging man von Stress und Dehydrierung aus. Auch diesmal zeigte Merkel Nehmer-Qualitäten, ließ sich den Empfang nach der Aufführung nicht nehmen!

Um 22:59 Uhr hatte Bild.de das unter der Überschrift “Schock in Bayreuth: Angela Merkel – Kollaps!” gemeldet.

Keine halbe Stunde später alarmiert eine Reihe von Online-Medien seine Leser mit Eilmeldungen. “Festspiele in Bayreuth: Merkel offenbar kurzzeitig kollabiert”, berichtet “Spiegel Online”. “Kollaps während der Pause – Schock in Bayreuth: Angela Merkel bricht zusammen”, tickert “Focus Online”. “Zusammenbruch! Sorge um die Kanzlerin”, schreibt Bunte.de.

Um 0:23 Uhr verbreitet die Nachrichtenagentur AFP die “Bild”-Meldung:

“Bild”: Merkel bei Wagner-Festspielen kurzzeitig in Ohnmacht gefallen
– Kanzlerin offenbar schnell wieder auf den Beinen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth laut einem Medienbericht einen Kollaps erlitten. Die 61-Jährige sei am Samstag während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht, berichtete das Nachrichtenportal “Bild Online”. (…)

Eineinhalb Stunden später rudert AFP zurück:

Regierungssprecher: Merkel bei Wagner-Festspielen nicht kollabiert – Kein Schwächefall – Stuhl der Kanzlerin brach zusammen

Berlin (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth am Samstag trotz eines Zwischenfalls in der Pause unbeschadet überstanden. Merkel habe keinen Schwächeanfall erlitten, lediglich der Stuhl der Kanzlerin sei zusammengebrochen, sagte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter der Nachrichtenagentur AFP.

Er dementierte damit einen Bericht des Nachrichtenportals “Bild Online”, wonach die 61-Jährige während der ersten Pause der Oper “Tristan und Isolde” kurzzeitig in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht sei.

Auch die Agentur dpa, die die “Bild”-Behauptung, anders als AFP und viele Online-Medien, nicht ungeprüft verbreitet hatte, vermeldet gegen zwei Uhr früh das Dementi.

Nutzer von “Focus Online” bekommen bald darauf erneut eine “Eilmeldung”: “Nicht Merkel brach zusammen, sondern ihr Stuhl”. Online-Medien löschen ihre alten Meldungen, korrigieren sie eilig oder fügen nur am Ende noch einen kleinen Absatz an.

Und bei Bild.de steht an der Stelle, an der gerade noch über den dramatischen “Kollaps” der Kanzlerin berichtet wurde, nun ein Stück über eine “Panne bei Bild.de”, nee: “bei Festspielen in Bayreuth: “Weshalb Angela Merkel mit ihrem Stuhl zusammenbrach”:

Zunächst hatte es geheißen, die Bundeskanzlerin habe einen Schwächeanfall gehabt und sei kollabiert. Lokale Medien und auch BILD hatten darüber berichtet.

Na sowas: Als “Bild” noch an die Richtigkeit der eigenen Geschichte glaubte, war von anderen, “lokalen Medien” als Quelle noch nicht die Rede gewesen.

PS: In einem großen Artikel über die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Presse hatte die “Bild am Sonntag” zum Tag der Pressefreiheit vor zwei Monaten übrigens erklärt:

Viele Medien, wie auch BILD am SONNTAG, haben zudem einige praktische Regeln für ihre Arbeit. Dazu gehört zum Beispiel das Zwei-Quellen-Prinzip. Das bedeutet: Es genügt nicht, eine Information zu bekommen, sie kann erst verwendet werden, wenn sie durch mindestens eine zweite Quelle bestätigt wurde.

Nachtrag, 12:25 Uhr. “Bild am Sonntag”-Chefredakteurin Marion Horn schreibt auf Twitter, es habe zwei Quellen für den Merkel-Kollaps gegeben, “nicht unbekannte Menschen, die dort waren”.

“FAZ” verkalkuliert sich beim unkalkulierbaren Griechen-Risiko

Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” schlägt in ihrer heutigen Ausgabe Alarm:

Eines der Probleme: Das durchschnittliche Renteneinstiegsalter der Griechen soll so verdammt niedrig sein:

Die griechische Regierung von Alexis Tsipras spricht in ihrer Vorlage für die Reformpartner und Gläubiger Griechenlands davon, dass man für das kommende Jahr als Zielgröße ein durchschnittliches Renteneintrittsalter von 56,3 Jahren ansteuern wolle

Okay, dann noch einmal extra für die “FAZ”: Das stimmt nicht.

Die ausführliche Erklärung haben wir gestern hier aufgeschrieben. Zusammengefasst: Die 56,3 Jahre, die die “FAZ” als geplantes “durchschnittliches Renteneintrittsalter” Griechenlands verkauft, beziehen sich nicht auf alle Griechen, sondern nur auf Angestellte im öffentlichen Dienst. Das steht so auch in einer Tabelle (Rententräger “PS Δημóσιο”) der “Vorlage für die Reformpartner” (PDF), auf die sich die “FAZ” beruft. Hätte die Redaktion vier Spalten weiter rechts geguckt, hätte sie gesehen, dass das gleiche Papier das für 2016 geplante Renteneinstiegsalter für Angestellte in der griechischen Privatwirtschaft (Rententräger “IKA-ETAM”) mit 60,6 Jahren angibt.

Schon vor drei Tagen hatte die “FAZ” den Quark mit den 56,3 Jahren verbreitet:

In der heutigen Ausgabe setzt die “FAZ” aber noch einen drauf:

In Deutschland liegt der durchschnittliche Rentenbeginn derzeit bei 64 Jahren.

Auch das stimmt nicht. Eine Statistik der Deutschen Rentenversicherung (PDF) sagt zwar, dass das durchschnittliche Zugangsalter bei Renten “wegen Alters” 64,1 Jahre betrage. Rechnet man jedoch all die Fälle hinzu, die “wegen verminderter Erwebsfähigkeit” früher in Rente gehen (durchschnittlich mit 51 Jahren), sinkt der Wert auf 61,3 Jahre.

Die “FAZ” baut also zwei Schnitzer — zufälligerweise genau die, die auch “Bild” gemacht hat. Und wer klammert sich wiederum an die “FAZ”, um seinen eigenen Mist zu rechtfertigen? Na klar:

Verliebt, verlobt, vertan

Am Sonntag veröffentlichte “Spiegel Online” eine Vorab-Meldung aus dem gedruckten “Spiegel”:

Die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion und stellvertretende Generalsekretärin der CSU, Dorothee Bär, hat ihren jetzigen Ehemann vor der Heirat nach Informationen des SPIEGEL über Jahre als wissenschaftlichen Mitarbeiter in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro beschäftigt. Bärs Ehemann Oliver ist promovierter Jurist.

Damit könnte Bär gegen das Abgeordnetengesetz verstoßen haben. Dieses verbietet den Parlamentariern, Arbeitskosten für Verwandte, Ehe- oder Lebenspartner abzurechnen. Dasselbe gilt auch für Verlobte.

Der letzte Satz ist der Entscheidende, wie wir gleich noch sehen werden.

Am Dienstag veröffentlichte Dorothee Bär auf ihrer Webseite nämlich ein Schreiben (PDF) von Bundestagspräsident Norbert Lammert, den sie um Prüfung gebeten hatte.

Darin erklärt Lammert, dass Frau Bär nicht gegen die entsprechende Passage im “Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages” verstoßen habe: Ihr späterer Ehemann sei bis zum 31. Januar 2006 beschäftigt gewesen, geheiratet habe sie ihn am 12. Februar 2006.

Die Behauptung “Dasselbe gilt auch für Verlobte” von “Spiegel und “Spiegel Online” wäre demnach unzutreffend.

In §12, Absatz 3 des AbgG heißt es:

Der Ersatz von Aufwendungen für Arbeitsverträge mit Mitarbeitern, die mit dem Mitglied des Bundestages verwandt, verheiratet oder verschwägert sind oder waren, ist grundsätzlich unzulässig. Entsprechendes gilt für den Ersatz von Aufwendungen für Arbeitsverträge mit Lebenspartnern oder früheren Lebenspartnern eines Mitglieds des Bundestages.

In seinem Schreiben stellt Lammert auch klar, dass mit “Lebenspartnern oder früheren Lebenspartnern” von Abgeordneten “nur solche gleichen Geschlechts zu verstehen sind”.

Tatsächlich wurde der betreffende Satz im Jahr 2001 in den Gesetzestext eingefügt, um dem zeitgleich in Kraft tretenden Lebenspartnerschaftsgesetz gerecht zu werden. Weil Schwule und Lesben nicht “heiraten” dürfen, brauchte es diese zusätzliche Formulierung.

Auf unsere Frage, ob “Spiegel Online” nach der Veröffentlichung von Lammerts Schreiben den entsprechenden Artikel überarbeiten wird, erklärte uns Chefredakteur Rüdiger Ditz, die Redaktion bleibe bei ihrer Darstellung. Sie habe im Vorfeld der Veröffentlichung eigene Informationen bei der Bundestagsverwaltung eingeholt, die anders ausgefallen seien als die jetzt veröffentlichte Feststellung des Bundestagspräsidenten.

Fürs Protokoll

Bei Bild.de klingen sie fast ein bisschen aufgeregt:

Löst ER die parteitaktischen Blockaden im Bundesrat?

Heute übernimmt Baden–Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (64) als erster grüner Präsident die Länderkammer.

Protokollarisch ist er jetzt der zweit-wichtigste Mann im Staat.

Das stimmt so nicht. Zwar ist es richtig, wenn Bild.de schreibt, dass der “Bundesrats-Chef” den Bundespräsidenten vertritt, “wenn der seine Amtsgeschäfte nicht ausüben kann”, aber das macht ihn nicht “protokollarisch” zum “zweit-wichtigsten Mann im Staat”.

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keine offizielle Rangliste, “welche die innerstaatliche Rangordnung verbindlich festlegt”, wie das Bundesinnenministerium auf seiner Website schreibt, aber:

Hinsichtlich der Rangfolge der Repräsentanten der Verfassungsorgane des Bundes hat sich jedoch im Laufe der Zeit folgende Staatspraxis herausgebildet:

  • Bundespräsidentin oder Bundespräsident
  • Präsidentin oder Präsident des Deutschen Bundestages
  • Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler
  • Präsidentin oder Präsident des Bundesrates
  • Präsidentin oder Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Wenn man also von einem “zweiten Mann im Staat” schreiben will, kann man das allenfalls beim Bundestagspräsidenten tun, so wie im Porträt von Norbert Lammert auf der offiziellen Seite des Bundestages geschehen.

Mit Dank an Thorsten N., Andreas M. und Danny W.

Bild  

Zum Lachen in den Bundestag gehen

“Bild” macht sich seit längerem um den Humor der Deutschen verdient. Im November druckte die Zeitung eine Woche lang die schönsten Altherrenwitze aus dem neuen Buch von Hellmuth Karasek, vergangene Woche war der knuddelige Professor dann “Gewinner des Tages”, weil er mit dieser Witzsammlung die Bestsellerliste “stürmte” (“BILD meint: Schmunzeln Sie mit!”).

Heute nun ist Wolfgang Thierse “Verlierer des Tages”, weil er angeblich so humorlos ist:

Bundestags-Vize Wolfgang Thierse (68/SPD) sorgt für wenig "Heiterkeit" im Hohen Haus, so eine Auswertung der Sitzungsprotokolle aus der letzten Legislaturperiode. Thierse heimste von allen Prominenten die wenigsten (30) "Heiterkeits"-Vermerke ein. BILD meint: Ein bisschen Spaß muss sein!

Es ist wahrscheinlich, dass “Bild” im aktuellen “Spiegel” auf diese Auswertung der Sitzungsprotokolle gestoßen ist. Das Nachrichtenmagazin berichtet in einem kurzen Artikel über die Internetseite bundestagger.de, die die offiziellen Sitzungsprotokolle auf den Begriff “Heiterkeit” durchsucht und eine entsprechende Rangliste angefertigt hatte. (Dass “Spiegel Online” schreibt, “nach SPIEGEL-Informationen zeigt eine Auswertung der Plenarprotokolle der vergangenen Legislaturperiode, dass Redner häufig für Heiterkeit bei den Abgeordneten sorgen”, ist offenbar der ganz eigene Humor im “Spiegel”-Hochhaus.)

Stefan Wehmeyer, der Betreiber von bundestagger.de schreibt über seine Statistiken:

Diese Statistiken verwenden absolute Zahlen (in eckigen Klammern findet sich die Anzahl), beschränken sich auf die Top 20 und sollten um aussagekräftiger zu sein relativ zur Fraktionsgröße wahrgenommen werden.

Das gilt natürlich auch für die Redezeit — dass Norbert Lammert besonders oft für Heiterkeit sorgt, liegt also nicht nur an seinem Humor, sondern auch daran, dass er als Bundestagspräsident besonders oft Gelegenheit hat, ihn zu beweisen.

Und für den “Bild”-“Verlierer” Wolfgang Thierse bedeutet die Beschränkung auf die Top 20, dass er mit Platz 20 bei 614 Abgeordneten zu den “lustigsten” 3 Prozent der Bundestagsabgeordneten gehört.

Bild  

Pleite-Journalisten

Ganz spurlos geht die Kritik einiger Medien und Politiker an der “Bild”-Hetzkampagne gegen Griechenland nicht vorbei. Zumindest erachteten es die beiden Redakteure Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer, die sich regelmäßig mit den “Pleite-Griechen” befassen, für notwendig, sich zu rechtfertigen.

Statt Selbstkritik zu üben, wie es in diesem Fall berechtigt wäre, holten die beiden vergangene Woche aber lieber zum Rundumschlag aus, bei dem das “leider” in der Überschrift vor Schadenfreude nur so trieft:

Griechen-Krise: BILD hatte leider recht

Anhand von neun äußerst willkürlich gewählten “Bild”-Aussagen über Griechenland aus dem Jahr 2010 versuchen Blome und Ronzheimer die Hetze zu rechtfertigen.

Und was soll man sagen? Natürlich hatte “Bild” nicht recht, aber die Aufzählung passt perfekt ins Bild der ganzen verlogenen Kampagne.

“Bild” zum Thema Privatisierungen:

“Verkauft doch eure Inseln!” schreibt BILD im März 2010.

Bundestagspräsident Norbert Lammert meint daraufhin, sich beim griechischen Parlamentspräsidenten entschuldigen zu müssen. (…)

Im Mai 2011 schreibt der britische “Economist” über den damaligen BILD-Bericht: “Damals klang es nach krassem Populismus. Heute ist es die Aussage der europäischen Finanzminister.”

Damals wie heute ist diese Forderung von “Bild” krasser Populismus — zumal die volle Schlagzeile lautete: “Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen …und die Akropolis gleich mit” (letztere Forderung wiederholte “Bild” zur Sicherheit vor zwei Wochen). Man stelle sich den Aufschrei hierzulande vor, wenn Deutschland aufgefordert würde, Teile des eigenen Staatsgebietes oder ein Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor zu verkaufen.

Michalis Pantelouris bringt es in einem Kommentar in seinem Blog “Print Würgt” auf den Punkt:

Für Griechen, die Deutsche noch als Besatzer kennen, ist das emotional hochbelastet, und das zu recht.

“Bild” weiter:

Tatsächlich hat Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen öffentlich kritisiert, dass Griechenland noch “für keinen Euro privatisiert hat”.

Nun will Griechenland im Höchsttempo 50 Mrd. Euro Staatsbesitz verkaufen (privatisieren): Beteiligungen an Konzernen – und Immobilien aus Staatsbesitz.

Nur weil Asmussen das sagt, ist es noch lange nicht richtig. Es mag dem Staatssekretär vielleicht nicht schnell genug gehen, aber seit Beginn der Krise wird in Griechenland privatisiert, was das Zeug hält, wovon auch deutsche Firmen wie etwa die Telekom profitieren.

“Bild” zum Thema Austritt aus der Eurozone:

“Tretet aus, Ihr Griechen!”, kommentiert BILD im April 2010.

Die Idee wird heftig attackiert. (…)

Ein Jahr später sieht es anders aus. In einem vertraulichen Papier des Bundesfinanzministeriums wird die Austritts-Variante ernsthaft diskutiert.

Viele Wirtschaftsexperten sind dafür, u. a. Ifo-Chef Sinn sagt: “Der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel.”

Dass “Bild” alles daran setzt, um Stimmung für einen Austritt oder gar Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu machen, hat BILDblog erst kürzlich aufgezeigt. Aber: Auch wenn “Bild” etwas anderes behauptet, sind sich nahezu alle Wirtschaftsexperten einig, dass ein Austritt Griechenlands nicht in Frage kommt. Auch Ifo-Chef Sinn betonte hinsichtlich seiner Äußerung, der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel:

Dies sei aber keine Empfehlung gewesen, präzisiert er nun, er habe lediglich die Möglichkeiten aufgezählt; die Journalisten neigten dazu, Dinge zu überspitzen.

“Bild” zum Thema Pleite:

“Ihr Pleite-Griechen”, so nennt BILD im Frühjahr 2010 das Land, das um EU-Milliarden bitten muss.

Das will die griechische Regierung natürlich nicht wahrhaben. (…)

Heute klingt das ganz anders, dramatisch.

Finanzminister Giorgos Papakonstantinou warnte Anfang der Woche vor einem Ausbleiben weiterer Kredit-Milliarden: “Wenn das Geld bis Ende Juli nicht kommt, müssen wir die Rollläden runterlassen. Der Staat wird dann alle Zahlungen einstellen.” Das nennt man Staatspleite.

Auch wenn “Bild” das offensichtlich anders sieht: Das Problem bei einer Formulierung wie “Pleite-Griechen” ist weniger die Frage, ob Griechenland letztlich irgendwann wirklich pleite ist, sondern die Tatsache, dass es sich um eine verallgemeinernde Beleidigung handelt, bei der ein komplettes Volk stigmatisiert wird — und zwar immer und immer wieder. Eine Suche auf Bild.de ergibt 125 verschiedene Artikel, in denen der Begriff “Pleite-Griechen” verwendet wird.

Zudem fehlt der Hinweis, dass Griechenland bis heute in jedem einzelnen Fall jeden einzelnen Kredit pünktlich bedient hat und dass Deutschland sowie deutsche Banken durch Kredite und Investitionen in Griechenland bislang nur Geld verdient haben. Das nennt man eben nicht Staatspleite.

“Bild” zum Thema Misswirtschaft:

“So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”, lautet Anfang März 2010 der Titel einer Auflistung von Steuerhinterziehungen, Korruption, Privilegien, die exemplarisch für Griechenlands Strukturkrise stehen.

Viele Politiker in Deutschland halten das für überzogen. SPD-Chef Sigmar Gabriel: “Es ist ein Unding, dass die Politik auf die Anti-Griechenland-Kampagne der BILD-Zeitung nicht reagiert hat, die Kanzlerin und der Außenminister vorweg.”

Gabriel reagierte damals nicht darauf, dass “Bild” griechische Missstände anprangerte, sondern er kritisierte Politiker von Union und FDP, die “Sprüche wie ‘Kein Cent den Griechen’ oder den Vorschlag, die Griechen sollen ihre Inseln verkaufen” von “Bild” übernommen hätten.

“Bild” weiter:

Ein Jahr später sind nicht wenige der kostspieligen Privilegien und Sonderleistungen für Staatsbedienstete (jeder 4. Arbeitnehmer) zumindest offiziell zusammengestrichen.

Der Schuldenberg des Landes ist dennoch schneller gewachsen als befürchtet. Die Strukturkrise Griechenlands ist nicht überwunden.

Inwiefern “Bild” in diesem Fall “leider recht” hatte oder nicht, ist irgendwie nicht erkennbar. Dass es in Griechenland gerade zu Beginn der Schuldenkrise viele Missstände gab, hat weder Gabriel noch sonst jemand bestritten. Kritikwürdig ist jedoch, wie “Bild” einzelne Probleme herausgreift und aus diesen heraus eine allgemeine mit Gier gepaarte griechische Sparunfähigkeit konstruiert (“… lesen Sie mal, was die sich alles leisten”). Darüber, dass die OECD Griechenland erst vor kurzem bescheinigte, so konsequent zu sparen wie kein anderes Land, haben bislang übrigens weder Blome noch Ronzheimer berichtet.

“Bild” zur Zukunft Griechenlands:

Griechenland ist ein “Fass ohne Boden”, schreibt BILD im Mai 2010.

Doch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hält dagegen: Er erwarte nicht, dass Griechenland über die jetzt beschlossenen (110 Mrd. Euro) Kredite hinaus weitere Finanzhilfen benötigt, sagte er in den ARD-“Tagesthemen”.

Inzwischen wird unter den EU-Finanzministern offen ein neues EU-Kreditpaket von zusätzlich 60 Mrd. Euro diskutiert.

“Bild” hat tatsächlich recht damit, dass die erste Finanzhilfe von 110 Milliarden Euro nicht ausreicht. Der Begriff “Fass ohne Boden” suggeriert jedoch, dass dieses Geld einfach verloren ist. Einmal mehr unterschlägt die Zeitung, dass Griechenland bislang alle Kredite bedient hat und dass Deutschland an dem “Fass ohne Boden” bis heute in Form von Zinsen fleißig mitverdient.

“Bild” über die Rückzahlungsfähigkeit Griechenlands:

“Sehen wir unser Geld jemals wieder?”, fragt BILD im April 2010. (…)

Premierminister Georgios Papandreou antwortet selbstbewusst: “Wir werden jeden Cent zurückzahlen.”

Doch es kommt anders. IWF, EU-Kommission und Europäische Zentralbank ziehen die sog. “Schuldentragfähigkeit” Griechenlands immer stärker in Zweifel.

Und noch mal: Bislang hat Griechenland jeden Cent zurückgezahlt. Ob das auch in Zukunft so sein wird, lässt sich schwer sagen, aber bislang ist “Bild” auch hier wieder im Unrecht.

“Bild” zur Effektivität der Finanzhilfen:

“Kann unser Geld die Griechen überhaupt noch retten?”, lautet eine andere BILD-Frage im Mai 2010.

Wieder hagelt es Kritik. (…)

Ein Jahr später ist allerdings klar, dass Griechenlands Anstrengungen nicht ausreichen.

Hier lohnt es sich, den besagten Artikel noch einmal zu lesen. Anders als von Blome und Ronzheimer dargestellt, wurde genau dieser Bericht von niemandem kritisiert: Er war nämlich einer der wenigen einigermaßen objektiven und unaufgeregten. Die Frage, ob “unser Geld” die Griechen überhaupt noch retten kann, hatte “Bild” ausnahmsweise völlig korrekt beantwortet:

Das kann niemand sagen.

“Bild” über das Verhältnis zur Politik der Bundesregierung:

“Verkauft uns nicht für dumm!”, fordert BILD von der Regierung in einem Kommentar Anfang Mai 2010.

Zuvor hatte u. a. Kanzlerin Merkel das Hilfspaket für Griechenland im Bundestag als  “alternativlos” dargestellt.

Mit den jetzt diskutierten verschiedenen Formen von Umschuldung bzw. Schuldenerlass wird aber klar, dass es doch Alternativen gibt – und von Anfang an gab.

Dieser Punkt geht anstandslos an Nikolaus Blome, der neben einem Euro-Austritt auch die Umschuldung und einen Schuldenerlass gefordert hatte — letzteren allerdings erst Mitte Mai 2011.

Der letzte Punkt und irgendwie auch das Fazit von “Bild” lautet:

“Griechenland versinkt im Chaos”, schreiben BILD-Reporter im Sommer 2010 nach einer Recherche-Reise.

In Deutschland will das niemand hören. Der Ex-Wirtschaftsweise Bert Rürup z. B. sagt: “Ich halte die Griechen in ihrer Mehrheit für einsichtig und lernfähig.”

Doch die Krise scheint das Land zu zerreißen.

Die “Recherche-Reise”, von der hier die Rede ist, diente allerdings nur bedingt dazu, die Hintergründe der griechischen Schuldenkrise zu recherchieren. Im Mittelpunkt standen stattdessen hämische Kommentare und plakative Aktionen wie diese:

Pleite-Griechen Hier feiern sie ihre Finanz-Spritze

Tschüs, Euro! BILD gibt den Pleite-Griechen die Drachmen zurück Aus Athen berichten Paul Ronzheimer und George Kalozois

Mit der Drachmen-Rückgabeaktion, die man schwer mit Journalismus verwechseln kann, brüstete sich Ronzheimer noch ein halbes Jahr später. Wie traurig es aussieht, wenn die Ereignisse einen solchen Schaumschläger dazu zwingen, doch einmal ernsthaft zu berichten, sehen Sie hier: Chaos in Griechenland – BILD-Reporter berichtet aus Athen

Bei einer solchen Ansammlung von willkürlichen Behauptungen, Lügen, Halbwahrheiten und Eitelkeiten fällt ein Fazit schwer. Am besten trifft es wohl auch hier Michalis Pantelouris, der schreibt:

Insgesamt: Bild hatte nicht recht und hat nicht recht. Stattdessen haben sie eine Kampagne an der Grenze zur Volksverhetzung gefahren (Michael Spreng), und ich möchte hinzufügen, dass nicht immer klar war, auf welcher Seite der Grenze.

Bild  

Hochstaplerfahrer Paul

“Bild” wirkt heute überrascht:

Es war der Tag nach der Rede-Schlacht – aber die Opposition lässt Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (39, CSU) keine Ruhe!

Ganz so, als sei davon auszugehen gewesen, dass nach dem großen Schlagabtausch über die Doktorarbeit des Ministers alle zur Tagesordnung übergehen und die Opposition die Regierung auch mal lobt.

Über die gestrige Parlamentsdebatte zur Aussetzung der Wehrpflicht schreibt Paul Ronzheimer, “Bild”-Experte für Verhöhnung:

Dann spricht SPD-Chef Sigmar Gabriel (51)! Er will nicht über die Wehrpflicht reden.

Gabriel nennt Guttenberg "Hochstapler"Ob Gabriel wollte oder nicht: er hat.

Mehr als zehn Minuten sprach Gabriel zum Thema, wie man bei YouTube sehen und im Sitzungsprotokoll nachlesen kann.

Er lobte die Aussetzung der Wehrpflicht, die die SPD schon 2007 gefordert hätte; warf dem Minister vor, auf Kosten der Sicherheit der Soldaten sparen zu wollen; vermisste ein Konzept, das über “wolkige Formulierungen” hinausgeht; kritisierte die Ansage “No risk, no fun”, die Angela Merkel gegenüber Kommandeuren gemacht hatte; zitierte Bundeswehrkreise, die sich besorgt über die geplante Reform geäußert hatten; forderte zu Guttenberg auf, die Reform so lange zu verschieben, bis der wisse, “wie Sie das machen wollen”.

Erst dann wandte sich Gabriel an die Bundeskanzlerin und bat sie: “Muten Sie uns und der Bundeswehr und sich und unserem Land dieses unwürdige Schauspiel, das wir seit Wochen mit Ihrem Verteidigungsminister erleben, nicht länger zu!”

Ronzheimer berichtet:

Der SPD-Chef spottet über Guttenberg: “Jeder weiß, dass wir es mit einem Hochstapler zu tun haben.” Und fügt hinzu: “Vielleicht stellt ja mal jemand einen Strafantrag …”

Die Sitzungsleitung hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (62, CDU). Aber einen Ordnungsruf gibt es wie am Vortag nicht.

Offenbar hätte sich Ronzheimer solche Ordnungsrufe an beiden Tagen gewünscht. Doch dieser zweite Absatz ist aus mehreren Gründen interessant: Zum einen suggeriert “Bild”, Lammert (im Gegensatz zu Guttenberg kein Freund der Zeitung) habe die Sitzungen am Vortag geleitet, was er nicht hatte. Zum anderen stammt die Feststellung, dass es am Mittwoch keine Ordnungsrufe gegeben habe, aus Gabriels Rede selbst:

Es gab keinen Ordnungsruf des Präsidenten, nicht einmal Tumulte oder allzu laute Proteste auf Ihrer Seite, als hier zum ersten Mal in der Geschichte des Parlaments ein amtierender Minister mehrfach von Abgeordneten Lügner, Hochstapler und Betrüger genannt wurde. (…)

Es gab keine große Aufregung bei Ihnen und keinen Ordnungsruf. Frau Bundeskanzlerin, was glauben Sie wohl, warum das so war? Weil jeder hier im Haus wusste, dass das Tatsachenbehauptungen sind.

“Bild” scheint das anders zu sehen.

Mit Dank an Jan D.

Handelsblatt, Tiroler Woche, Antifeministen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Döpfner und Handelsblatt: Der Aufstieg der Konkurrenz-Kultur”
(neunetz.com, Marcel Weiß)
Marcel Weiß analysiert ein “Handelsblatt”-Interview mit Mathias Döpfner: “Es ist Döpfner als Vorstandschef des Springer-Konzerns nicht vorzuwerfen, dass er mehr Geld verdienen will und dafür auch in Interviews marktwirtschaftliche Gesetze in seinen diesbezüglichen Forderungen ausklammert. Das ist Öffentlichkeitsarbeit und nachvollziehbar, auch wenn sie ihn nicht immer unbedingt als jemanden dastehen lässt, der weiß, wovon er redet. Aber dass das Handelsblatt, das als Wirtschaftszeitung wirtschaftliche Zusammenhänge offen legen und erklären sollte, völlig an der Realität vorbei berichtet und in einem solchen Interview keinerlei kritische Ansätze oder Fragen formuliert werden, die auf ein grundlegendes Verständnis der sich verschiebenden Marktdynamiken hindeuten, ist wirklich bemerkenswert.”

2. “Sieger ist immer der Sender”
(nzz.ch, Niels Anner)
Simon Fuller und Simon Cowell haben wir die Casting-Shows zu verdanken, schreibt Niels Anner: “Es ist Schadenfreude-TV. Zu Recht, übrigens. Jeder weiss ja, dass er ein sadomasochistisches Spiel eingeht, wenn er sich anmeldet.”

3. “Tirol: ‘Berichterstattung wie vereinbart!'”
(kobuk.at, Markus Wilhelm)
“Kobuk” publiziert Dokumente der “Tiroler Woche”, die aufzeigen, wie positive Berichte über geschaltete Anzeigenseiten mitgekauft werden.

4. “Falsche Medizin gegen Prämienschock”
(konsumentenschutz.ch)
Ein kostenpflichtiger SMS-Krankenkassenvergleichstest des “Blick am Abend” liefert “nicht die drei tiefsten Angebote”. Die Stiftung für Konsumentenschutz SKS legt eine Beschwerde wegen unlauterer Werbung ein.

5. “Nette Fragen für den Politiker”
(sueddeutsche.de, Stefan Klein)
Stefan Klein wünscht sich bei der Befragung von Politikern im Fernsehen konsequenteres Nachhaken: “Es ist fast immer nur eine Art Schattenboxen, das nicht weh tun, nicht enthüllen und schon gar nicht demaskieren soll. Es ist nette, freundliche Routine und für die Politiker leichtes, sehr leichtes Spiel.”

6. “Mann, was bist du gut!”
(zeit.de, Margrit Sprecher)
Margrit Sprecher besucht ein per Geheimcode organisiertes Treffen Schweizer Antifeministen.

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