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Der Unfall von Südtirol, die fehlende Korrektur und die “journalistische Aufrichtigkeit” der “Bild”-Zeitung

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute unter anderem Platz war:

  • “Schluck! DEUTSCHES BIER WIRD TEURER” — der größte deutsche Bierhersteller hebt die Preise für Fassbier an
  • die Gewinnquoten beim Lotto
  • einen Leserbrief zum möglicherweise drohenden Aus des “Tatort” mit Til Schweiger: “Bitte ARD, keinen Cent mehr für solchen Filmschrott ausgeben.”
  • Franz Josef Wagners Geschreibsel an Oliver Kahn
  • “IHR HOROSKOP” für den 8. Januar
  • “Die traurige Wahrheit” hinter der Liebe zwischen “Dianas Nichte” und einem “Mode-Millionär”
  • “Schluss mit Blond”: “TV-Star Christine Neubauer (57) färbt ihre Haare nicht mehr blond.”
  • die Kinder des dänischen Kronprinzenpaars “pauken jetzt in der Schweiz”
  • Sidos Ehefrau Charlotte Würdig will ihrem Mann helfen, von einer Nasenspray-Sucht wegzukommen
  • die “Playboy”-Fotos von Laura Müller, der Freundin des Wendlers
  • “Frau trocknet nasses Telefon in Mikrowelle”
  • “HITLER-DOUBLE WILL IN MÜNCHEN AUFTRETEN”
  • “Rentnerin hatte Granate als Deko”

Wofür in der “Bild”-Ausgabe von heute kein Platz war:

  • eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion gestern auf ihrer Titelseite ein unvepixeltes Foto einer Frau gezeigt hat, die laut “Bild” bei einem Unfall in Südtirol ums Leben gekommen sein soll — die aber in Wirklichkeit überhaupt nichts mit dem Unfall zu tun hat, die nicht mal in Südtirol war und die vor allem: lebt.

“Bild”-Chef Julian Reichelt sagte mal über sich selbst:

Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.

Und Springer-Chef Mathias Döpfner lobte mal die angeblich so “tolle” Fehler-Kultur bei “Bild”:

Und was ich toll finde: Dass Julian Reichelt, wenn er Fehler macht, sich dafür entschuldigt und sofort Transparenz herstellt.

Das Zeugenproblem: Die Erinnerung ist eine Wikipedia-Seite

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 7: unzuverlässige Zeugen.

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Wenn Menschen Zeuge eines Unfalls werden, passiert es danach erstaunlich oft, dass sie in ihrer Aussage bei der Polizei angeben, sie hätten erst einen Knall gehört und sich dann umgedreht. Trotzdem sind sie fest davon überzeugt, den Unfall beobachtet zu haben. In der Rechtssprache nennt man diese Menschen Knallzeugen. Das Phänomen beobachtet man auch bei Raubüberfällen, wenn geschossen wurde. Menschen glauben, sie könnten ihrer Erinnerung vertrauen, doch in Wirklichkeit war alles ganz anders.

Auch Journalistinnen und Journalisten haben mit diesen Menschen zu tun. Es kann sein, dass sie gründlich recherchiert und mit mehreren Zeugen oder Zeuginnen gesprochen haben, aber die Informationen, die sie erhalten haben, trotzdem falsch sind. Hinzukommt: Sie selbst sind natürlich kein Stück besser. Auch Journalistinnen und Journalisten verlassen sich auf ihre Erinnerung, obwohl das sehr oft keine gute Idee ist.

Eine beliebte Übung in Reportage-Seminaren ist, allen Teilnehmenden eine Szene vorzuführen oder erleben zu lassen und ihnen im Anschluss die Aufgaben zu geben, die Szene zu beschreiben. Das Ergebnis ist üblicherweise: Alle Beschreibungen fallen völlig unterschiedlich aus. Das liegt nicht nur an Erinnerungsverzerrungen, sondern auch daran, wohin Menschen ihre Aufmerksamkeit lenken und was sie mit dem Gesehenen verbinden.

Die 3Sat-Wissenschaftssendung “Nano” hat für einen Beitrag in einem Experiment die Zuverlässigkeit von Zeuginnen und Zeugen untersucht. Zehn Menschen erlebten einen inszenierten Überfall. Danach sollten sie versuchen, sich an den Täter zu erinnern und ihn zu beschreiben. Der Überfall hatte direkt vor ihren Augen stattgefunden. Trotzdem lagen die Altersangaben der Zeuginnen und Zeugen um bis zu 30 Jahre auseinander. Auf Fotos konnte nur die Hälfte den Mann identifizieren.

In dem Beitrag kommt auch der Gedächtnisforscher und Gerichtsgutachter Hans Markowitsch zu Wort. Er sagt: “Stresshormone […] führen dazu, dass man auch seine Wahrnehmung sehr eng ausrichtet, und alles in der Peripherie wird mehr oder minder ausgeblendet.” Etwa die Hälfte aller Aussagen vor Gericht seien weit von der Wahrheit entfernt.

Ein großes Missverständnis ist, dass viele Menschen denken, dass das Gedächtnis wie eine Speicherkarte funktioniert. Die us-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus vergleicht es in ihrem TED-Vortrag “How reliable is your memory?” mit einer Wikipedia-Seite: “Du kannst dort hineingehen und es verändern. Und andere können das auch”, sagt sie.

Der Rechtspsychologin Julia Shaw ist es in einem Experiment gelungen, 70 Prozent der Probandinnen und Probanden falsche Erinnerungen einzupflanzen und sie davon zu überzeugen, dass sie eine Straftat begangen haben. Die Menschen erinnerten sich anschließend in einer großen Detailtreue. Sie konnten ihre Emotionen exakt beschreiben. Und die Erinnerungen ließen sich auch danach noch umprogrammieren. “Wir müssen wissen, dass mehrere Befragungen auch dazu führen können, dass Täter mehr Missinformationen mit einbauen in ihr Erinnern”, sagt Shaw in einem Beitrag des ARD-Wissenschaftsmagazins “Planet Wissen”. Und das ist auch für die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten von Bedeutung.

Augenzeugen müssen häufig einen ganzen Interview-Marathon absolvieren. Wenn Journalistinnen und Journalisten Gesprächspartner brauchen, nehmen sie oft die, von denen sie wissen, dass diese bereit sind, etwas zu sagen, weil sie auch schon mit Kolleginnen oder Kollegen gesprochen haben. Aber es kann sein, dass die Befragten beim fünften oder siebten oder zehnten Interview schon eine leicht veränderte Geschichte erzählen: “Je öfter man jemanden befragt, desto mehr kann sich das Erinnern verändern”, sagt Julia Shaw. Jedes erneute Erzählen und jede Suggestivfrage können die Erinnerung formen und Details zu einem festen Bestandteil einer Erzählung werden lassen, obwohl die Befragten sich anfangs gar nicht so sicher waren.

Wie leicht sich die Erinnerung durch Fragen in eine Richtung lenken lässt, zeigt zum Beispiel der Priming-Effekt*: Ein Reiz löst bestimmte Assoziationen aus. Das lenkt das Denken — und sogar das Verhalten. Der Psychologe Daniel Kahneman beschreibt diese Effekte in seinem Buch “Schnelles Denken, langsames Denken”.

Studien zeigen: Menschen, die mit Begriffen konfrontiert werden, die mit dem Altern zu tun haben, bewegen sich danach langsamer. Und der Effekt funktioniert auch umgekehrt: Menschen, die aufgefordert werden, langsam zu laufen, erkennen Wörter, die mit dem Altern zu tun haben, sehr viel schneller wieder.

Der jeweilige Reiz kann ein Bild oder ein Geruch sein, aber eben auch Fragen. Beantworte zum Beispiel im Kopf diese Fragen:

  • Welche Farbe hat der Kittel eines Arztes?
  • Welche Farbe haben Wolken?
  • Welche Farbe hat Schnee?
  • Was trinkt die Kuh?

Bei der vierten Frage denken viele Menschen zuallererst an Milch, obwohl die richtige Antwort natürlich wäre: Wasser.

Auf diese Weise können Fragen von Journalistinnen und Journalisten Einfluss darauf nehmen, wie Befragte sich erinnern. Und natürlich betrifft der Effekt die Journalistinnen und Journalisten auch selbst.

Eines der bekanntesten Beispiele dafür, wie sehr uns unser Gehirn in die Irre führen kann, ist dieser Aufmerksamkeitstest (Achtung, leichter Spoiler!): Man sieht ein schwarz gekleidetes Team und ein weiß gekleidetes Team, die sich Bälle hin und her werfen. Man soll die Pässe zählen. Doch wenn man das macht, übersieht man schnell ein wichtiges Detail. Das Video ist ein Beispiel für das Phänomen der selektiven Wahrnehmung.

Menschen sehen nur das, was sie suchen. Im Journalismus kann das zu falschen Darstellungen führen — meist mit nicht besonders dramatischen Folgen. In anderen Berufen steht sehr viel mehr auf dem Spiel: In dem Buch “Crash-Kommunikation: Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen” beschreibt Peter Klaus Brandl den Hergang eines Flugzeugabsturzes in Spanien im Jahr 2008. Eine Maschine war wenige Kilometer von Madrid entfernt kurz nach dem Start in ein Flusstal gestürzt. Die Absturzursache, wie Experten später feststellten: Die Crew hatte vergessen, die Landeklappen auszufahren. Eigentlich im Cockpit eine absolute Selbstverständlichkeit, laut Brandl “so selbstverständlich wie Schuhe anziehen”.

Wie das passieren konnte? Die Crew hatte schon einen Startversuch abbrechen müssen**. Beim zweiten Mal versäumte sie, wie das Luftfahrtmagazin “Austrianwings” schreibt, mehrere Routine-Schritte. Ein defektes Alarmsystem machte sie nicht auf den Fehler aufmerksam. Das alles passierte unter großem Stress. Ein weiterer Abbruch hätte sie Stunden gekostet.

Im Journalismus gehen Stresssituationen in der Regel viel glimpflicher aus, aber auch dort führen sie dazu, dass Dinge übersehen werden — nicht nur bei der Aufnahme von Informationen, auch danach noch. Etwa beim Redigieren von Texten. Wer Grammatik- oder Rechtschreibfehler finden möchte, übersieht unter Umständen, wenn etwas inhaltlich nicht stimmt. Und das ist oft die Erklärung, wenn die Frage gestellt wird: Wie kann das denn passieren — das haben doch drei Leute gelesen?

Aber auch auf der Suche nach Rechtschreibfehlern kann vieles schiefgehen, weil das Gehirn es sich leicht macht und nach Mustern sucht. Deswegen können Menschen Sätze lesen, in denen zwar alle Buchstaben vorhanden sind, aber nur der erste und der letzte Buchstabe bei jedem Wort an der richtigen Stelle stehen.

Aslo ugneähfr so.

Das bewirkt allerdings nicht nur, dass Menschen Wörter lesen können, die falsch geschrieben sind, sondern eben auch, dass sie beim Redigieren falsche Wörter übersehen. Genau das dürfte hier passiert sein:

Ausriss eines Zeitungsartikels - Ein Anwohner hatte gegen 12 Uhr einen Knall

Ein anderer typischer Fehler ist, Texte zwar sorgsam auf inhaltliche und grammatikalische Fehler zu durchsuchen, aber den Blick fürs Ganze zu verlieren. Wenn man Pech hat, sieht das dann so aus:

Ausriss eines Zeitungsartikels - Pferdetourismus in Planung - dazu ein Foto einer Schafsherde

Aber was kann man dagegen tun?

Um sich nicht von der eigenen Erinnerung täuschen zu lassen, sind genaue Aufzeichnungen unglaublich hilfreich. Das ist eine banale Erkenntnis, die es aber noch immer nicht in alle Redaktionen geschafft hat. Telefoninterviews nur mit dem Stift mitzuschreiben oder sich darauf zu verlassen, dass man sich an ein Zitat später schon irgendwie erinnern wird, ist weit verbreitet und eigentlich immer eine schlechte Idee, wenn es darum geht, Fehler zu vermeiden.

Gegen Erinnerungsverzerrungen bei Gesprächspartnern kann man sich nur schützen, indem man die Informationen prüft. Aber das ist nicht immer möglich. Es kann aber sinnvoll sein, sich die gleiche Sache noch mal von einer anderen Person erzählen zu lassen, auch wenn man denkt, man habe doch schon alles erfahren.

Eine unscheinbare, ziemlich langweilig klingende, aber überraschend wirkungsvolle Methode, um Gedächtnisfehler zu vermeiden, ist die Checkliste. Mit ihr lassen sich Text-Bild-Scheren, Fehler in Überschriften oder Bildunterschriften in vielen Fällen vermeiden. Und wirklich nützlich wird die Checkliste, wenn man das Gefühl hat, dass man sie eigentlich nicht mehr braucht. Denn neben dem Gedächtnis ist eine weitere mindestens ebenso unangenehme Fehlerquelle: die Routine.

*Nachtrag, 23. Dezember: Zwei Leser haben uns darauf hingewiesen, dass neue Studien die in Daniel Kahnemans Buch “Schnelles Denken, langsames Denken” dargestellten und hier oben beschriebenen Forschungsergebnisse zum “Priming” so nicht bestätigen. Eine dieser Studien findet man hier. Ein vor knapp zwei Wochen erschienener Beitrag in der Fachzeitschrift “Nature” fasst den aktuellen Stand der Debatte zusammen. Herzlichen Dank für die Hinweise an Simon B. und Frank R.!

**Korrektur, 23. Dezember: Ein Leser hat uns darauf hingewiesen, dass die Darstellung des Flugzeugabsturzes in dem Buch “Crash-Kommunikation: Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen”, die wir weiter oben zusammengefasst haben, nicht ganz richtig ist: Laut dem im Luftfahrtmagazin “Austrianwings” dargestellten abschließenden Untersuchungsbericht ereignete sich der Absturz nicht beim dritten, sondern beim zweiten Startversuch. Und eine Ungenauigkeit in unserer Darstellung: Die Piloten übersahen keine Warnleuchte, sie versäumten eine Kontrolle. Eine Alarmvorrichtung machte sie nicht darauf aufmerksam, weil sie defekt war. Wir haben das korrigiert. Herzlichen Dank an Harald S. für den Hinweis!

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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier, Teil 5 hier und Teil 6 hier. Oder alle Teile auf einmal hier.

Dunning-Kruger: Wer nichts weiß, weiß nicht mal das

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 5: Selbstüberschätzung.

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Wer schon mal eine längere Abschlussarbeit schreiben musste, hat das Phänomen wahrscheinlich selbst erlebt: Ganz am Anfang wusste man nichts über das Thema, aber man ging davon aus, dass sich das bald ändern würde. Dann vergingen Tage und Wochen, in denen man sich ausführlich mit der Sache beschäftigte. Aber unglücklicherweise schlossen sich nicht nach und nach alle Wissenslücken, sondern es taten sich immer neue auf. Das ist eine ganz typische Entwicklung. Mit dem Wissen wächst auch die Fähigkeit, das eigene Nichtwissen abzuschätzen. Oder umgekehrt: Wer wenig weiß, hat keine Ahnung, wie wenig er weiß.

Die Psychologen David Dunning und Justin Kruger haben diesen Effekt im Jahr 1999 untersucht. Ihre Arbeit trägt den Titel: „Unskilled and unaware of it: how difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments“.

Die beiden Wissenschaftler ließen Probandinnen und Probanden an einem Test teilnehmen und baten sie im Anschluss, ihre eigene Leistung im Vergleich zu der aller übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer einzuschätzen. Alle hielten sich selbst für überdurchschnittlich gut. Aber je schlechter ihre Leistung war, desto mehr neigten sie dazu, sich zu überschätzen. Die besseren tendierten dazu, ihre Leistung zu unterschätzen. Es zeigte sich: Menschen mit geringem Wissen können nicht nur ihr eigenes Wissen schlecht einschätzen. Sie sind auch nicht in der Lage, die Überlegenheit anderer zu erkennen. Und das ist besonders fatal, denn es führt dazu, dass inkompetente Menschen oft ein enormes Selbstvertrauen besitzen.

Auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben das Phänomen untersucht. Die Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman nennen es “Overconfidence bias”.

Journalistinnen und Journalisten haben mit diesem Effekt bei ihrer Arbeit ständig zu tun — sowohl im Kontakt mit anderen als auch bei der Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten. Unglücklicherweise wissen viele nichts von diesem Problem.

Vor allem, wenn Reporterinnen und Reporter tagesaktuell arbeiten, im Lokalen oder Regionalen, bleibt oft nicht viel Zeit, um sich auf Pressetermine oder Interviews vorzubereiten. Es bleibt generell nicht viel Zeit für Recherche. Das Gefühl, alles im Groben verstanden zu haben, stellt sich in der Regel aber schnell ein — manchmal schon nach einem flüchtigen Blick auf den Wikipedia-Artikel. Nur genau dann ist die Gefahr am größten, bei völliger Ahnungslosigkeit gewaltigen Unsinn zu verbreiten. Genau das passiert natürlich trotzdem.

Pressesprecherinnen und Pressesprecher bringt das in eine dumme Situation: Sie wissen, dass vor allem bei regionalen und lokalen Medien viel schiefläuft. Dort haben Reporterinnen und Reporter es oft am selben Tag gleich mit mehreren, völlig verschiedenen Themen zu tun, die für sie neu sind, und abends müssen die Texte fertig sein. Wenn beispielsweise ein Pressesprecher eine Journalistin dann fragt, ob er den Artikel vor der Veröffentlichung noch einmal sehen dürfe, um zu verhindern, dass etwas falsch dargestellt wird, gerät er in Verdacht, auf diese Weise auch auf den Inhalt Einfluss nehmen zu wollen — was allerdings oft genug auch passiert. Das weiß ich aus eigener Erfahrung als Lokalreporter.

In vielen Redaktion gilt daher die strikte (und nachvollziehbare) Regel: Wir geben unsere Texte vor der Veröffentlichung nicht heraus. Journalistinnen und Journalisten erklären das dann mit der Pressefreiheit. Allerdings gehört zu dieser Freiheit auch die Verpflichtung zu prüfen, ob Informationen wirklich stimmen. Und wenn sie wissen, dass sie das nicht garantieren können, wäre es unter bestimmten Bedingungen vielleicht doch einen Gedanken wert.

Das ist nie eine optimale Lösung. Es gibt vieles, was dagegenspricht, es so zu machen. Ich habe via Twitter Journalistinnen und Journalisten gebeten, mir zu sagen, wie sie es mit der Herausgabe von Texten halten. Im Dokument ist nicht zu sehen, wer geantwortet hat. Aber die Antworten bilden vieles ab, was ich von Journalistinnen und Journalisten schon öfter gehört habe. In einer Antwort steht: “Noch nie gemacht und werde es auch nie machen, weil es die Standards versaut und am Ende allen schadet.”

Das stimmt, es verändert die Standards. Allerdings schadet es auch, wenn Informationen falsch erscheinen und erst später richtiggestellt werden. Zum einen erreicht die Korrektur viele Leserinnen und Leser nicht mehr, zum anderen tendieren Menschen auch dann dazu, an Informationen festzuhalten, wenn sie erfahren, dass sie falsch sind (Belief perseverance).

Journalistinnen und Journalisten gehen mit der Situation sehr unterschiedlich um. Das zeigen schon die wenigen Antworten auf meine Frage: Danach geben einige nur Zitate heraus, andere auch ganze Texte. Bei Wortlaut-Interviews ist die Autorisierung in Deutschland üblich. Aber auch bei Zitaten im Text wird sie häufig gefordert und ist manchmal Voraussetzung dafür, dass ein Gespräch überhaupt zustande kommt.

Es hängt auch von der Art der Texte ab, ob Journalistinnen und Journalisten den Menschen, über die sie berichten, das Ergebnis vor der Veröffentlichung zeigen. Bei Investigativgeschichten wird es in der Regel logischerweise nicht vorkommen, bei Berichten über Wissenschaftsthemen wahrscheinlich recht häufig.

Normalerweise gebe ich nichts vorher zum Lesen heraus, es sei denn, es ist technisch/wissenschaftlich kompliziert und ich will sicher gehen, alles richtig verstanden und wiedergegeben zu haben

… heißt es in einer der Antworten. Ungefähr so steht es auch in einer anderen. Der Journalist Birk Grüling schreibt mir in einer Nachricht:

Ich habe mit dem “Textherausgeben” durchaus positive Erfahrungen gemacht. Häufig schreibe ich über intime Dinge — Kinder mit Behinderung, Schicksale. Viele dieser Menschen geben mir einen großen Vertrauensbonus, haben oft noch nie mit Journalisten gesprochen. Und den gebe ich zurück. Natürlich mit dem Hinweis, dass ich höchstens ein Zitat oder eine falsche Schreibweise im Namen ändere.

Auch zwischen Publikumspresse und Fachpresse gibt es Unterschiede. Während es in der Publikumspresse, bei überregionalen Tageszeitungen oder Nachrichten-Magazinen, eher verpönt ist, Texte vor der Veröffentlichung zu zeigen, schreibt Jürg Vollmer, Chefredakteur des Schweizer Landwirtschafts-Fachmagazins “Die Grüne”:

[W]ir können nicht alles wissen. Deshalb geben wir grundsätzlich jeden Text und jedes Interview den beteiligten Protagonisten zum Gegenlesen. Diese können fachliche Fehler oder Ungenauigkeiten korrigieren. Absolut tabu beim Gegenlesen sind aber die fachlichen Beurteilungen unserer Redakteure und das “Weichspülen” von Zitaten der Protagonisten (die wir deshalb als Audio-Format aufnehmen). Für diese konsequente Haltung büßen wir immer wieder mal Inserate-Aufträge ein, das nehmen wir in Kauf. Wir erreichen dadurch aber eine praktisch fehlerfreie Berichterstattung, was unsere kritischen Leser […] sehr zu schätzen wissen.

Ich selbst habe auf diesem Gebiet wahrscheinlich schon fast jeden Fehler gemacht, den man machen kann. Ich habe mich darauf verlassen, als Menschen mir versicherten, es gehe nur darum zu schauen, ob im Text alles richtig sei. Später fand ich mich in einer Diskussion darüber wieder, ob man dies oder das denn nicht doch irgendwie anders formulieren könnte. Ich habe auch schon einem Gespräch unter der Voraussetzung zugestimmt, dass die Zitate später autorisiert werden, und leichtsinnigerweise den gesamten Text geschickt, weil ich den Inhalt für harmlos hielt. Der Text ist nie erschienen.

Ich habe allerdings auch Fehler an Stellen gemacht, an denen ich gar keine Gefahr sah. Und ich bin schon oft von Fachleuten auf Details hingewiesen worden, die nicht stimmen und die auch Kolleginnen oder Kollegen nicht gefunden hätten, denen ich sonst meine Texte zum Lesen schicke.

Deshalb halte ich selbst es mittlerweile so: Wenn von mir gefordert wird, dass ich Texte, die keine Wortlaut-Interviews sind, vor der Veröffentlichung vorlege, sage ich immer: nein. Aber ich biete es manchmal von mir aus an, wenn ich meinem eigenen Wissen nicht traue und nicht die Gefahr sehe, dass jemand die Chance nutzen wird, Einfluss auf den Inhalt zu nehmen.

Selbstüberschätzung betrifft natürlich genauso die Menschen, mit denen Journalistinnen und Journalisten es zu tun haben — und nicht nur inkompetente Gesprächspartner, sondern ebenso Expertinnen und Experten. Holm Friebe beschreibt in seinem Buch “Die Stein-Strategie” ein Experiment des Psychologen Philip Tetlock, der Mitte der 80er-Jahre für ein Experiment 284 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik und Journalismus bat, die Wahrscheinlichkeit bestimmter politischer Ereignisse vorherzusehen: Wo der Ölpreis in zwei Jahren steht. Wie wahrscheinlich ein Krieg zwischen Indien und Pakistan innerhalb der nächsten fünf Jahre ist. Und so weiter. 20 Jahre lang trug Tetlok Tausende von Datensätzen zusammen. Friebe schreibt:

Im Großen und Ganzen war die Güte der Expertenprognosen nicht besser als der nackte Zufall. Das heißt, sie wären “von einem Dartpfeile werfenden Schimpansen geschlagen worden”, wie es Tetlock formuliert.

Doch nicht alle Expertinnen und Experten waren gleich. Tetlock unterschied zwischen Fachleuten mit großen Wissen auf einem bestimmten Gebiet (Igel) und Personen mit einem breiten breiten Wissen und “Demut vor der Zukunft” (Füchse). Die Füchse schnitten durchweg deutlich besser ab. Friebe schreibt dazu:

Die Igel […] lagen sogar umso weiter daneben, je mehr die Prognose mit ihrem Spezialthema zu tun hatte. Aufgrund ihres großen Fachwissens überschätzten sie systematisch sowohl ihre eigene Prognosefähigkeit als auch die durchschlagende Bedeutung ihres Themas für die allgemeine Zukunft. Zur sprichwörtlichen Betriebsblindheit tritt “overconfidence”, überzogenes Selbstbewusstsein.

Das hat mit einem Effekt zu tun, den Daniel Kahneman die WYSIATI-Regel (What you see is all there is) nennt: Menschen beurteilen das, was sie wissen oder sehen und vernachlässigen systematisch das, was sie nicht sehen. In seinem Buch “Schnelles Denken, langsames Denken” schreibt auch er über über Tetlocks Experiment und ein Ergebnis, das für den Journalismus recht interessant ist:

Philip Tetlock beobachtete, dass die Experten mit der stärksten Selbstüberschätzung am ehesten eingeladen wurden, in Nachrichtensendungen zu zeigen, was sie draufhaben.

Und möglicherweise tut das der Fähigkeit zur Selbstkritik nicht immer gut. Kahneman zitiert Tetlock:

“Experten, die hoch im Kurs standen”, schreibt er, “überschätzten sich selbst stärker als ihre Kollegen, die fern des Rampenlichts ein kümmerliches Dasein fristen.”

Sogar Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger sind davor anscheinend nicht gefeit. Vielleicht macht der Ruhm sie sogar besonders anfällig. Laut Michael Brendler hat der frühere Londoner Medizinprofessor Robin Weiss der bei ihnen auftretende Form der Selbstüberschätzung sogar ein eigenes Wort geben: “Nobilitis”. Sie zeige sich so:

Plötzlich glauben sie [die Nobelpreisträger], alles zu verstehen, und äußern grandiose Ideen auf Gebieten, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben.

Aber auch auf dem eigenen Fachgebiet ist die Gefahr groß, Unsinn zu behaupten, wenn man sich seiner Sache zu sicher ist. Forscher der Cornell University haben Menschen, die für sich beanspruchten, sich gut mit Finanzthemen auszukennen, eine Liste mit 15 Begriffen aus der Finanzwelt vorgelegt und sie gebeten, diese zu erklären. Darunter waren zum Beispiel Fantasiebegriffe wie “annualisierter Kredit”. Das Ergebnis war: “Je sicherer sich die Probanden ihrer ökonomischen Kenntnisse waren, desto öfter erklärten sie mit großem Ernst, was sich hinter den ausgedachten Termini verbarg.”

Das große Problem beim Dunning-Kruger-Effekt ist: Von außen lässt sich nur wenig machen. Menschen auf ihre Inkompetenz hinzuweisen, führt meistens zu nichts, denn auch wenn man sie mit der Nase darauf stößt, fehlt ihnen weiterhin das Wissen, um das Ausmaß ihrer Ahnungslosigkeit zu erkennen. Zuallererst müsste man diese Menschen dazu bewegen, sich mehr Wissen anzueignen, um in die Lage zu kommen, ihre Schwäche zu erkennen. Doch das ist schwer. Sie sehen zum Lernen ja gar keine Notwendigkeit.

Selbstüberschätzung lässt sich nur verhindern, wenn man sich selbst gegenüber skeptisch bleibt, wenn man das eigene Wissen infrage stellt und die eigenen Einschätzungen mit denen anderer abgleicht. Oder in anderen Worten: Für Journalistinnen und Journalisten bedeutet das, sie sind gut beraten, auch dann kritisch zu bleiben, wenn dazu auf den ersten Blick überhaupt gar kein Anlass besteht.

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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier und Teil 4 hier. Oder alle Teile auf einmal hier.

Heuristiken: Riskante Schleichwege fürs Denken

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 2: Heuristiken.

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Als Anfang des Jahres private Daten von Prominenten auf einer Internetseite auftauchten, war “Bild”-Chef Julian Reichelt sich sehr schnell sicher, wie alles gewesen sein musste. In Gabor Steingarts Podcast sagte er damals:

Ich glaube, was relativ klar ist: Das waren nicht ein oder zwei Jungs, die bei Pizza und Cola light im Keller gesessen haben, bisschen Computerspiele, bisschen Youtube und dann bisschen was gehackt haben und das dann aufbereitet haben. Das muss eine größere Struktur gewesen sein.

Am Ende stellte sich heraus: Reichelt hatte recht. Es waren tatsächlich nicht zwei Jungs gewesen, die ein bisschen was gehackt und dann aufbereitet hatten, es war nur einer.

Julian Reichelt ist dabei ein Fehlschluss unterlaufen, der Menschen immer wieder passiert — Journalistinnen und Journalisten sehr häufig, weil sie oft in Situationen geraten, in denen sie wenig wissen, aber trotzdem irgendetwas sagen müssen.

Wenn wichtige Informationen fehlen, um zu einer guten Einschätzung kommen zu können, müssen Menschen sich an etwas orientieren. Die verschiedenen Techniken, mit denen sie versuchen, im Nebel Halt zu finden, nennt man Heuristiken.

Menschen versuchen, sich in so einer Situation mit einer Handvoll Puzzleteilen ein vollständiges Bild zu machen. In sehr vielen Fällen gelingt das auch. Wenn man auf einem Puzzleteil eine Nase erkennen kann, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass auf den übrigen Mund und Augen zu sehen sein werden.

Wahrnehmungspsychologen nennen diese Methode Repräsentativitätsheuristik, weil Menschen dabei von einer einzelnen repräsentativen Information auf die Gesamtheit schließen. Im Falle des Puzzlestücks kann das Gesamtbild natürlich auch aus eintausend Nasen bestehen. Aber um das herauszufinden, müsste man das gesamte Bild erst zusammenzusetzen. Die Heuristik macht es möglich, sich schnell zu entscheiden.

Menschen, die “Fake News” verbreiten möchten, machen sich dieses Prinzip zunutze. Sie entwerfen Websites, die auf den ersten oberflächlichen Blick aussehen wie Nachrichtenseiten. Sie spekulieren darauf, dass die Menschen sich auf ihren ersten Eindruck und ihre Intuition verlassen und nicht ganz so genau hinschauen. Darauf fallen auch Journalistinnen und Journalisten ganz gern herein.

Als der heutige “Titanic”-Chefredakteur Moritz Hürtgen im Juni 2018 bei Twitter meldete, Horst Seehofer wolle die Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU auflösen, hätten wenige Klicks genügt, um herauszufinden, dass der Twitter-Account @hrtgn nichts mit dem Hessischen Rundfunk zu tun hat. Aber Hürtgen hatte die Journalistinnen und Journalisten schon richtig eingeschätzt: Er hatte lediglich sein Profilbild geändert und in den Tagen zuvor ein paar Meldungen vom Hessischen Rundfunk gepostet. Die Nachrichtenagentur Reuters verließ sich darauf, dass der Account den Anschein einer seriösen Quelle hatte. Danach machte die satirische Falschmeldung die Runde.

Das Problem ist: Heuristiken liefern in der Tendenz gute Ergebnisse, sind aber recht anfällig für Fehler — vor allem dann, wenn Menschen nicht ahnen, dass ihr Urteil durch eine Heuristik zustande kommt.

In Gabor Steingarts Podcast erklärt “Bild”-Chef Reichelt seine Einschätzung so:

Ich glaube nach allem, was wir an Hacks in den letzten Jahren gesehen und erlebt haben, ist das Wahrscheinlichste immer noch, dass es zumindest staatliche Unterstützung, von welcher Seite auch immer, für diesen Hack gab.

Reichelt schaut, wie gut die Situation in ein Muster passt — wie repräsentativ sie also für eine bestimmte Situation ist. Danach bemisst er die Wahrscheinlichkeit.

In solchen Situationen machen Menschen auch oft einen anderen Fehler: Sie schätzen Wahrscheinlichkeiten falsch ein, wenn sie sich von logischen Zusammenhängen blenden lassen. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky nennen das Phänomen das Linda-Problem. Herausgefunden haben sie es mit einem Experiment, in dem sie Probandinnen und Probanden eine Frau beschrieben und ihnen dann Fragen stellten. Sie charakterisierten die Frau zunächst mit Merkmalen, die zu einer Feministin passen, und fragten anschließend: Was ist wahrscheinlicher:

  • Die Frau ist Bankangestellte?

Oder:

  • Die Frau ist eine feministische Bankangestellte?

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entschieden sich mehrheitlich für die zweite Antwort, weil es logisch erscheint, dass eine feministische Frau auch eine feministische Bankangestellte ist. Allerdings ist jede feministische Bankangestellte auch einfach nur eine Bankangestellte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau zu dieser viel größeren Gruppe gehört, ist also deutlich höher.

Diese falsche Einschätzung nennt sich Basisratenfehler: Wenn etwas offensichtlich erscheint, neigen Menschen dazu, nicht auf die tatsächlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten zu schauen.

Julian Reichelt muss die Wahrscheinlichkeit recht hoch vorgekommen sein, dass irgendein Geheimdienst bei der Veröffentlichung der Prominenten-Daten seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Und nun gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder ist ein recht unwahrscheinliches Ereignis eingetreten — oder Reichelt hat die Wahrscheinlichkeiten falsch eingeschätzt.

In beiden Fällen ist ihm möglicherweise noch ein anderer Denkfehler unterlaufen, den Kahneman mit der sogenannten WYSIATI-Regel (What you see is all there is) beschreibt: Wenn Menschen eine Situation einschätzen, schauen sie auf die Informationen, die vor ihnen liegen. Sie bewerten das Sichtbare und unterschätzen den Einfluss des Unsichtbaren — sogar dann, wenn sie wissen, dass unbekannte Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Das kann dazu führen, dass Menschen Zusammenhänge konstruieren, wo keine sind — dass sie zum Beispiel davon ausgehen, dass ein außergewöhnlicher Fußballtorwart auch ein zuverlässiger Ratgeber in Finanzfragen sein muss, oder ein sympathischer Moderator auch ein guter Bundeskanzler wäre (Halo-Effekt). Dieses Prinzip nutzt die Werbung sehr gerne.

Umgekehrt kann es auch zur Folge haben, dass bekannte negative Eigenschaften einen Verdacht auf Menschen lenken, die im konkreten Fall nichts damit zu tun haben (Teufelshörner-Effekt). Mit diesem Effekt arbeiten auch Krimi-Autoren: Wenn eine Figur in einer Szene zu sehen ist, in der sie unfreundlich zu anderen Menschen ist, lenkt das auch den Verdacht im Mordfall auf sie (wobei es am Ende doch immer die Figur war, die zu Beginn von allen am sympathischsten erschien).

Es gibt noch eine Reihe weiterer Denkabkürzungen, mit denen Menschen sich behelfen, wenn sie schnell Entscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel die Verfügbarkeitsheuristik: Wenn Menschen nicht alle relevanten Faktoren kennen, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, überlassen sie die Bewertung ihrer Erinnerung. Das führt dazu, dass sie besonders präsente Informationen bevorzugen — also all das, was ihnen sofort in den Sinn kommt.

Im Fall der geleakten Prominenten-Daten hätten die Täter natürlich Aktivisten von irgendwoher sein können. Weil Julian Reichelt und sein “Bild”-Team die Russen aber ohnehin hinter so gut wie allem vermuten, lag wohl auch hier die Annahme nahe, dass der russische Geheimdienst etwas mit der Sache zu tun haben muss.

Die Verfügbarkeitsheuristik spielt im Journalismus an verschiedenen Stellen eine Rolle. Wenn Journalistinnen und Journalisten einen Experten suchen, der etwas zu einem Thema sagen kann, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht den anrufen, der sich am besten auskennt, sondern den, der ihnen als Erstes einfällt.

Außerdem beeinflussen Medien sich bei der Auswahl von Themen gegenseitig. Berichten mehrere Redaktionen über etwas, kommt schnell die Frage auf: Warum haben wir das nicht? So gewinnt die Verbreitung an Dynamik. Und je präsenter ein Thema ist, zum Beispiel bei Twitter, desto schneller fällt es Redakteurinnen und Redakteuren in den Themenkonferenzen ein. Das führt zu einer Verzerrung, deren Ergebnis sein kann: Über ein wichtiges Thema wird nicht berichtet, weil über ein wichtiges Thema nicht gesprochen wird.

Die Verfügbarkeitsheuristik verzerrt auch die Wahrnehmung des Publikums. Wenn Meinungsforschungsinstitute Menschen fragen, wovor sie am meisten Angst haben, ist kurz nach Terroranschlägen eine häufige Antwort: vor Terroranschlägen — obwohl die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt, an Krebs oder bei einem Autounfall zu sterben, sehr viel größer ist.

Berichten Journalistinnen und Journalisten über diese Umfragen, führt das wiederum dazu, dass der Effekt sich verstärkt, weil beim Publikum der Eindruck entsteht: Wenn andere das auch so sehen, ist die Sorge ja offenbar nicht ganz unbegründet.

Ein weiterer Denkfehler, der in der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten eine Rolle spielt, ist der fundamentale Attributionsfehler. Menschen neigen dazu, den Einfluss von Personen auf Ereignisse zu über- und den der Umstände zu unterschätzen. Dieser Fehler kommt zum Beispiel in der Sport- oder Wirtschaftsberichterstattung häufig vor, wenn Journalistinnen und Journalisten Erfolge der Taktik des Trainers oder der unkonventionellen Art des Vorstandsvorsitzenden zuschreiben. So ergibt sich eine stimmige Geschichte. Es kann allerdings sein, dass die unkonventionelle Art des Firmenchefs bei Rekordverlusten zwei Jahre später auch eine gute Erklärung für seinen Misserfolg ist. Tatsächlich hat der Zufall sehr großen Einfluss. Das ist allerdings eine Erklärung, von der man in der Berichterstattung nur sehr selten liest.

Gleichzeitig spielt dabei die Ergebnisverzerrung (Outcome-Bias) eine Rolle. Um die Qualität von Entscheidungen zu bewerten, schauen Menschen auf das Ergebnis. Hat eine Mannschaft gewonnen, hat der Trainer dem Anschein nach alles richtig gemacht. Es kann aber eben auch sein, dass eine Mannschaft gewonnen hat, obwohl der Trainer ihr mit seinen Entscheidungen alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt hat.

Was aber lässt sich gegen diese Verzerrungen machen?

Das Herrschaftswissen der Verhaltensökonomie und Sozialpsychologie über Shortcuts und Fehler bei der Entscheidungsfindung (…) ist vielen Kommunikationsmanagern und -strategen, die die Medien für ihre Zwecke instrumentalisieren, inzwischen wohlvertraut. Dagegen kennen all das bisher viel zu wenige Journalisten

… schreibt der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl in seinem Buch “Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde”. Daher ist der erste Schritt: sich unbewusste Denkprozesse bewusst machen. Dann fällt man vielleicht immer noch auf sie herein, kann das aber in einem zweiten Schritt überdenken und korrigieren.

Janina Kalle hat einen interessanten Beitrag über Techniken geschrieben, mit deren Hilfe sich diese Verzerrungen entschärfen lassen. Um das Outcome-Bias auszuschalten, kann es zum Beispiel sinnvoll sein, eine andere Perspektive einzunehmen, sich zu fragen: Wäre unter den gleichen Umständen ein anderer Ausgang der Geschichte möglich gewesen?

Generell gilt: Wer sich die Wahrnehmungsverzerrungen bewusst macht, hat immerhin die Chance, sie zu erkennen. Auch Zeit ist immer von Vorteil, denn wenn das Gehirn schnelle Entscheidungen trifft, ist die Fehlerwahrscheinlichkeit hoch. Und je weniger Journalistinnen und Journalisten sich auf ihre Erinnerung und vor allem auf bloße Eindrücke verlassen, desto geringer ist die Gefahr, vom eigenen Gehirn überlistet zu werden.

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zitiert in seinem Buch “Die große Gereiztheit” ein geflügeltes Wort us-amerikanischer Journalistinnen und Journalisten: “Wenn deine Mutter dir sagt, sie liebt dich, überprüfe es.” Für Julian Reichelt könnte man den Satz etwas abwandeln: “Wenn dein Gefühl dir sagt, es waren die Russen, recherchiere es.”

***

Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier.

Wenn “Bild” mal was checkt

Erzählt irgendjemand Unsinn, ist es immer praktisch, einen Experten zur Hand zu haben, der den Unsinn geraderückt. Bei “Bild” gelten sie ja als Experten für Fußball (Aber der Sportteil …!”). Daher sollten wir alle dankbar sein, dass die Redaktion heute den “BILD-Check” im Blatt und bei Bild.de macht:

Drei WM-Titel dank Bayern? Der BILD-Check

Es geht um Behauptungen von FC-Bayern-München-Präsident Uli Hoeneß zur deutschen Fußballnationalmannschaft bei verschiedenen Weltmeisterschaften:

Ausriss Bild-Zeitung - Die Hoeneß-Provokation

Hoeneß sagte der Deutschen Presse-Agentur:

Die Nationalmannschaft hat immer dann ihre erfolgreichsten Phasen, wenn der FC Bayern genügend Spieler liefert.

Und:

Ich denke an die WM-Titel 1974 und 2014, auch 1990 hatte der Kern eine prägende Vergangenheit bei uns.

Das hat sich “Bild” mal genauer angeschaut. WM 1974:

1974 waren es sechs Spieler. Kapitän Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, “Katsche” Schwarzenbeck, Paul Breitner, Gerd Müller und Sepp Maier schossen Deutschland zum Heim-WM-Titel. Und alle sind bei Bayern groß geworden.

Da fehlt schon mal Hans-Josef Kapellmann, der von 1973 bis 1979 beim FC Bayern München spielte. Allerdings, das halten wir “Bild” zugute, kam Kapellmann bei der Weltmeisterschaft nicht zum Einsatz.

WM 1990:

1990 standen nur vier Bayern (Aumann, Pflügler, Augenthaler, Reuter) im Kader. Final-Torschütze Brehme und Kapitän Matthäus wechselten 1988 zu Inter.

Nun könnte man darauf hinweisen, dass Uli Hoeneß extra sagte: “auch 1990 hatte der Kern eine prägende Vergangenheit bei uns”, was auf Brehme und vor allem auf Matthäus zutreffen dürfte. Aber auch ohne die beiden waren es 1990 nicht “vier Bayern” im Kader der Nationalmannschaft, sondern sechs: “Bild” vergisst Jürgen Kohler, der von 1989 bis 1991 in München spielte und bei der Weltmeisterschaft 1990 viermal zum Einsatz kam, darunter auch im Finale; und Olaf Thon, der von 1988 bis 1994 beim FC Bayern München war und immerhin im Elfmeterschießen im WM-Halbfinale traf.

WM 2014:

2014 feierten sechs Bayern den WM-Titel. Neuer, Boateng, Kapitän Lahm, Müller und Schweinsteiger waren Eckpfeiler, Götze traf im Finale zum Titel.

Hier fehlt Toni Kroos, der bis zur WM für den FC Bayern München spielte und erst danach für Real Madrid. Kroos kam in Brasilien bei allen sieben Partien zum Einsatz und schoss zwei Tore.

Bei drei Weltmeisterschaften schafft es die “Bild”-Redaktion, dreimal den Kader nicht richtig durchzuzählen. Sie sind eben echte Experten.

Mit Dank an Gregor G. für den Hinweis!

Nachtrag, 14:29 Uhr: Bei Bild.de haben sie auf unsere Kritik reagiert, die jeweiligen Stellen nachgebessert und am Ende des Artikels diese Anmerkung hinzugefügt:

In einer früheren Version haben wir die Namen Hans-Josef Kapellmann (1974), Jürgen Kohler und Olaf Thon (beide 1990), sowie Toni Kroos (2014) nicht aufgeführt. Der Fehler tut uns leid. Die Redaktion hatte sich auf die jeweilige Mannschaft konzentriert, die im Endspiel auf dem Platz stand. Kroos hatte die Redaktion hierbei schon als Real-Spieler eingerechnet.

Die Begründung, dass die Redaktion “sich auf die jeweilige Mannschaft konzentriert” habe, “die im Endspiel auf dem Platz stand”, kann allerdings nicht der Wahrheit entsprechen. Wie wir bereits geschrieben haben, stand zum Beispiel Jürgen Kohler, den die “Bild”-Medien in ihrer Aufzählung vergessen hatten, im WM-Finale 1990 von Beginn an auf dem Platz. Raimond Aumann und Hans Pflügler, die die “Bild”-Redaktion in ihre Aufzählung aufnahm, spielten hingegen keine einzige Minute im Endspiel.

Nachtrag, 16:43 Uhr: Nun hat Bild.de den Satz “Die Redaktion hatte sich auf die jeweilige Mannschaft konzentriert, die im Endspiel auf dem Platz stand.” ersatz- und kommentarlos gestrichen.

“Bild” könnte sich laut “Bild” mehrfach strafbar gemacht haben

Manchmal stehen in der “Bild”-Zeitung auch interessante Sätze. Zum Beispiel am vergangenen Samstag in der Leipzig-Ausgabe:

Wenn sich das so bestätigt, ist das ohne Frage eine widerliche Tat. Aber klar sollte auch sein: Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Oder leicht abgewandelt ebenfalls am Samstag bei Bild.de:

Wenn sich das so bestätigt, ist das ohne Frage eine widerliche Tat. Allerdings: Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich möglicherweise strafbar machen.

Das, was sich “so bestätigen” könnte, ist ein Vorfall vom vergangenen Dienstag im sächsischen Schkeuditz. Dort soll ein Mann beim örtlichen Reitverein eine Stute mit einem stockähnlichen Gegenstand missbraucht haben. Eine Überwachungskamera lieferte Fotos des Mannes, die eine Pferdewirtin auf Zettel druckte, die sie wiederum in der Region verteilte. Die FDP Nordsachsen verbreitete die Aufnahmen des Mannes, ebenfalls ohne Unkenntlichmachung, auf der eigenen Facebook-Seite und fragte dazu: “Wer kennt diesen Mann?”

Darüber berichteten dann auch “Bild” und Bild.de:

Screenshot Bild.de - Polizei verärgert über Facebook-Post - FDP suchte nach mutmaßlichem Pferdeschänder
Ausriss Bild-Zeitung - Polizei verärgert über Facebook-Aufruf - Nordsachsen-FDP fahndet nach mutmaßlichem Pferdeschänder

Diese Fahndung sei nicht in Ordnung, sagt ein Polizeisprecher in “Bild”:

“Wir fangen erst an zu ermitteln und haben längst nicht alle Mittel ausgeschöpft. Eine Öffentlichkeitsfahndung ist dabei die letzte Maßnahme!”

Im Anschluss weisen die “Bild”-Medien in der bereits zitierten Passage darauf hin, dass man sich mit einem privaten Fahndungsaufruf strafbar machen könne.

Es ist gut und wichtig, dass die “Bild”-Redaktion mal so deutlich Position bezieht zu Fahndungsaufrufen, die nicht durch Gerichte angeordnet wurden. Denn als “Bild”-Leserin oder -Leser könnte man fast meinen, dass derartige Fahndungsaufrufe von Privatleuten oder Privatunternehmen das Geilste sind, wo gibt völlig in Ordnung sind.

Zur Erinnerung: So sah die “Bild”-Titelseite wenige Tage nach den Ausschreitungen rund um das G20-Treffen in Hamburg aus:

Ausriss Bild-Titelseite - Gesucht! Wer kennt diese G20-Verbrecher?
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Die “Bild”-Redaktion veröffentlichte im vergangenen Juli diesen Fahndungsaufruf in Millionenauflage, Vorverurteilung inklusive. Eine Öffentlichkeitsfahndung der Polizei gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir zitieren an dieser Stelle gern die Leipziger “Bild”-Ausgabe vom vergangenen Samstag:

Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Anderes Beispiel. Im vergangenen Oktober hat in Hamburg ein Mann seine eigene Tochter getötet und ist dann geflohen. Polizei und Staatsanwaltschaft verzichteten auf eine Öffentlichkeitsfahndung, weil man noch über erfolgsversprechende Ermittlungsansätze verfügte, die am Ende auch zur Festnahme des Mannes führten. Bild.de fragte bereits wenige Stunden, nachdem der Tod des Kindes bekannt geworden war, ungeduldig:

Warum fahndet die Polizei nicht öffentlich nach dem Killer?

Ein paar Tage später — es gab weiterhin keine Öffentlichkeitsfahndung durch die Polizei — reichte es den “Bild”-Medien. Sie veröffentlichten, ohne irgendeine Verpixelung, ein Foto des damals Tatverdächtigen:

Screenshot Bild.de - Dringend gesucht - Das erste Foto des Kinder-Killers

Noch einmal:

Wer private Fahndungsaufrufe verbreitet, kann sich strafbar machen.

Man muss aber nicht mal ins Archiv schauen, um auf die “Bild”-Bigotterie zu stoßen. Es reicht schon, in derselben Leipziger “Bild”-Ausgabe, aus der die Aussage zu privaten Fahndungsaufrufen stammt, vier Seiten zurückzublättern. Dann landet man im überregionalen Teil und bei dieser Geschichte:

Ausriss Bild-Zeitung - Ständig kriegt Marianne Fotos der Diebe - Diese Jungs haben mein Handy geklaut

Nicht nur Marianne “kriegt (…) Fotos der Diebe” zu sehen, sondern auch die gesamte “Bild”- und Bild.de-Leserschaft. Sowohl online als auch in der Printausgabe zeigt die Redaktion ein unverpixeltes Foto der zwei Jungen, die die 70-Jährige beklaut haben und laut “Bild” “etwa zehn Jahre alt” sein sollen. Etwa zehn (!) Jahre alt.

Im Artikel sagt ein Polizeisprecher:

“Wir haben die Fotos der Jungen gesichert und fahnden jetzt nach ihnen.”

Es braucht also keine zusätzliche, mediale Fahndung nach zwei Kindern durch “Bild” und Bild.de. Zumal man sich mit dieser “strafbar machen” könnte. Das stand jedenfalls mal in “Bild”.

Mit Dank an Thomas, andreas und Alex F. für die Hinweise!

Amerikanische Mädchen, Türkische Presse, Europäische Fußballer

1. Lux-Leaks-Prozess: Bewährungsstrafen für Whistleblower
(sueddeutsche.de, Bastian Brinkmann)
Dass sich deutsche und internationale Konzerne mit Unterstützung Luxemburgs vor Steuerzahlungen in Milliardenhöhe drücken, konnte nur bewiesen werden, weil zwei ehemalige Mitarbeiter der Beraterfirma PwC entsprechende Unterlagen an die Presse weitergaben. Diese Papiere bildeten die Basis für “Lux-Leaks”, eine weltweite Recherche des “Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten”, unter anderem mit “SZ”, “Guardian” und “Le Monde”. Die Whistleblower, die damit eine europaweite Debatte und Veränderungen im Steuerrecht angestoßen haben, stehen nun erneut im Rampenlicht der Aufmerksamkeit. Jedoch nicht als Preisträger eines Preises für Zivilcourage und gesellschaftliches Engagement, sondern weil sie zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt wurden.

2. Die geheime Welt von Mädchen im Bann der sozialen Medien
(welt.de, Uwe Schmitt)
“American Girls – Social Media and the Secret Lives of Teenagers”, so heißt das Buch der “Vanity Fair”-Reporterin und Jugendkultur-Spezialistin Nancy Jo Sales. Uwe Schmitt von der “Welt” stellt das Buch samt Diagnose vor und diskutiert die in manchen Rezensionen geäußerten Kritikpunkte.

3. Liebe Presse: Gedanken zum EM-Honorar-Skandal
(wortvogel.de, Torsten Dewi.)
Torsten Dewi hat ein Problem mit der Berichterstattung um die angeblich exorbitante Honorare von kommentierenden Fußball-Promis im Fernsehen: “Mir fällt auch auf, dass die Ex-Spieler gar nicht wirklich die konkreten Summen bestreiten. So wird sich eher darauf berufen, dass man ja mehrjährige Verträge mit den Sendern habe und deshalb die Errechnung von “Tagesgagen” Unsinn sei. Das klingt für mich nicht nach Gegenangriff, sondern nach Salami-Taktik. Vor allem habe ich das Gefühl, dass viele Kollegen den Ex-Spielern und den Sendern allzu willfährig dabei helfen, Nebelkerzen zu werfen, anstatt die einzige Frage zu recherchieren und zu beantworten, die tatsächlich Aufklärung brächte: Wie viel Geld bekommen Kahn und Scholl eigentlich für ihre (je nach Auslegung) schlauen Sprüche?” (Anmerkung des 6-vor-9-Kurators: Zum Ringen um Zahlen siehe auch die Mitschrift der ARD Pressekonferenz bei “Planet Interview”)

4. Nach der letzten Instanz
(konkret-magazin.de, Marcus Hammerschmitt)
Buchautor Marcus Hammerschmidt kommentiert im Juni-Heft von “konkret” und online die Reaktion der Verlage auf das VG-Wort-Urteil des BGHs. Dieses untersagt den Verlagen die bisherige Praxis, sich bei der für die Autoren gedachten Urheberrechtsabgabe zu bedienen. Die Verlage würden die bisherige Selbstbedienungspraxis mit einem angeblichen “gentlemen’s agreement” verteidigen. Hammerschmitt dazu: “Um diesen Stuss unter die Leute zu bringen, benutzt man vorzugsweise die komplett Ahnungslosen und die bis zur Besinnungslosigkeit Überangepassten unter den Autoren selbst.”

5. Kritiker unerwünscht: Pressefreiheit in der Türkei
(de.ejo-online.eu, Kristina Karasu)
Die freie Journalistin und Filmemacherin Kristina Karasu berichtet Besorgniserregendes aus der Türkei: Fast alle Medien seien mittlerweile auf Regierungslinie, kritische Journalisten würden als Terror-Unterstützer gelten, Dutzende würden wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt. Und wer aus den Kurdengebieten berichte, begebe sich in große Gefahr. Der größte Verlierer sei die Bevölkerung. Nicht nur die Meinungsfreiheit stünde auf dem Spiel – sondern langfristig auch der soziale Frieden.

6. Euro 2016: Reportieren für Fortgeschrittene
(youtube.com, Video, 2:52)
Boris Rosenkranz von “Übermedien” erklärt mit verschiedenen Videobeispielen und in unter drei Minuten, wie Sie zum Star der EM-Reporter werden.

Querfront, Queerfront, Querschuss

1. Zur Kritik am Artikel über eine Rechtsextremismus-Studie
(spiegel.de, Benjamin Schulz)
Die Universität Leipzig hat vor kurzem die Studie “Die enthemmte Mitte, Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland” veröffentlicht. Die Ergebnisse stießen auf große Aufmerksamkeit. Der Branchendienst “kress” kritisierte die Berichterstattung der Medien und erwähnte explizit den Artikel von Spiegel Online: “Den Vogel schoss Spiegel Online ab – die Berichterstattung dort war so reißerisch und so selektiv, dass der Text nur noch sehr bedingt etwas mit Information des Lesers zu tun hatte, dafür umso mehr mit Klick-Zahlen und Kampagnenjournalismus.” Der Autor des kritisierten Spiegel-Beitrags bezieht nun Stellung.

2. Was die „Zeit“ über Homophobie lernen könnte, wenn sie es denn wollte
(nollendorfblog.de, Johannes Kram)
In der “Zeit” vom 16. Juni 2016 konnte man auf der Titelseite einen Satz lesen, der für Irritationen sorgte („Homophobie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die enormen Emanzipationsgewinne der Schwulen und Lesben.“). Johannes Kram erläuterte in seinem Beitrag „Die schrecklich-nette Homophobie der “Zeit”” , warum er den Satz für “hammerhomophob” hält. Mittlerweile hat sich der Autor der beanstandeten Passage in den Kommentaren zu Wort gemeldet. Und macht die Sache nur schlimmer, wie Johannes Kram findet.

3. Wo die Zukunft der Unterhaltung produziert wird
(sueddeutsche.de, Michael Moorstedt)
Die deutsche Youtube-Niederlassung in Berlin hat erstmalig 16 ausgewählte Nutzer zum einwöchigen Lehrgang eingeladen. Auf dem Lehrplan standen Dinge wie Audience Development, Selbstpromotion, Kameraführung und Beleuchtung. Michael Moorstedt von der “SZ” nimmt den Leser mit ins hippe Bootcamp der “Creator”, wie Youtube seine Videolieferanten nennt. Eine muntere Mischung der verschiedensten Genres hatte man dort zusammengeführt: Von Indie-Poesie bis zu Kiffer- und Pimmel-Witzen war alles dabei.

4. Heftige Kritik an “kress”-Bericht über “Millionen-Honorare”
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Der Branchendienst “kress pro” hat in einem Beitrag (Überschrift: “Mein teurer Scholli”) die Honorare kritisiert, die Fußballexperten wie Mehmet Scholl und Oliver Kahn bei ARD und ZDF angeblich kassieren würden. Von bis zu 50.000 Euro am Tag war die Rede. Die ARD hat mit heftigen Worten dementiert (“gleicht beinahe schon vorsätzlicher Bösartigkeit”). Als Betroffener hat sich Ex-National-Torhüter Oliver Kahn auf Facebook zu den Zahlen geäußert: “Hierbei handelt es sich um eine eklatante Falschmeldung, die jeglicher Grundlage entbehrt. Kress.de verbreitet eine Fehlinformation, die bewusst Neid und Missgunst in der Öffentlichkeit in Kauf nimmt und den Zuschauern die Freude an der Berichterstattung vermiesen soll. Auch die Redakteure der anderen Online-Dienste, die diese Fehlinformation ungeprüft weiterverbreiten, möchte ich an ihre publizistische Verantwortung erinnern.”

5. Neue Dimensionen des Hasses
(amadeu-antonio-stiftung.de)
Die Amadeu Antonio Stiftung hat den “Monitoringbericht zu rechtsextremen und menschenverachtenden Phänomenen im Social Web für 2015/2016” veröffentlicht. Die Hetze in den Sozialen Medien spitze sich weiter zu. Die Dimensionen des Hasses würden von rassistischer Hetze, die Meldungen über Attacken auf geflüchtete Menschen und Brandanschläge auf Asylunterkünfte bejubeln, bis hin zur Hetze gegen ehrenamtliche Flüchtlingshelfer, Journalisten, Verwaltung und Politik reichen. Die Vorsitzende der Stiftung Anetta Kahane: “Im Social Web beobachten wir zudem die Bildung einer gefährlichen Querfront aus unterschiedlichsten politischen Spektren, die aber zunehmend einen gemeinsamen Nenner finden und das ist der »Hass gegen das System.” Link zum Bericht in voller Länge.

6. Nackt im Kartenhaus: Der Enthüllungsjournalismus der Zoe Barnes – House of Cards
(journalistenfilme.de, Patrick Torma)
Patrick Torma hat sich die hochgelobte Netflix-Serie “House of Cards” näher angesehen. Obwohl man an anderer Stelle viel Gutes über die Serie sagen könne, zeige sich “HoC” in der Darstellung von Journalistinnen reichlich reaktionär.

ZDF, Hater, Aufreger

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Jürgen Klopp”
(begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Fußball: Das ZDF-Interview mit Jürgen Klopp (youtube.com, Video, 1:51 Minuten) nach dem Spiel Real Madrid gegen Borussia Dortmund wird von vielen Medien als “Eklat” aufgefasst. “Das ist gängige Praxis: Kritik an ihrer eigenen Berichterstattung wenden Sportreporter immer gegen den Kritik Übenden. Sie wähnen sich dabei als Sprachrohr des Zuschauers oder des Fans. In Wahrheit sind sie auf der Suche nach dem Fettnäpfchen, dem Eklat, der einen Aussage, die eine Diskrepanz zwischen Mannschaft und Spieler X oder Kapitän Y dokumentiert. Kommt man ihnen auf die Schliche, argumentieren sie mit der Pflicht zur Berichterstattung.”

2. “Journalisten, die provozieren? Bäh!”
(taz.de, Jürn Kruse)
Das Gespräch war später auch noch Thema bei “Markus Lanz”: “Nur dass Jürgen Klopp mittlerweile arge Schwierigkeiten hat, seinen GesprächspartnerInnen (Béla Réthy, Claudia Neumann, Oliver Kahn und nun Breyer) den nötigen Respekt entgegenzubringen, oder dass langweilige FragenstellerInnen, die überhaupt nichts beim Gegenüber provozieren, eine Zumutung für den Zuschauer sind, das findet niemand in der Runde perfide. Schade.”

3. “FCB verurteilt Berichterstattung in zwei englischen Medien”
(fcbayern.de)
Der FC Bayern München meldet, die britischen Medien “Daily Mirror” und “The Sun” hätten “in respektloser, diskriminierender und persönlich beleidigender Form” über Bastian Schweinsteiger berichtet. Deshalb werde man ihren Vertretern “beim Rückspiel FC Bayern München gegen Manchester United (09.04.) in der Allianz Arena keine Medienakkreditierung zukommen lassen.”

4. “Hater, bleibt weg – hier immer nur lieb kommentieren!”
(horstson.de)
“Leser sind Kunden!”, schreibt Horstson zur Auseinandersetzung zwischen Autor und Kommentierer. “Und wenn Diskussionen mal aus dem Ruder laufen, kann man immer noch bitten, den Dialog via Mail weiter zu führen. Mit einem Quäntchen Humor, dem Wille zur Selbsterkenntnis und -kritik, bekommt man das hin, auch sehr kritischen Kommentaren angemessen zu begegnen.”

5. “Journalisten-Stalking: Bei Hoeneß Dahoam”
(ardmediathek.de, Video, 2:35 Minuten)
Über 150 Journalisten zu Besuch in der JVA Landsberg.

6. “Der 11FREUNDE-Aufreger”
(11freunde.de/aufreger)

Bunte  etc.

Keine Trennkost bei Weight Watchers

Die Feiertage haben noch gar nicht angefangen, aber die “Bunte” erzählt schon mal, wie man “mit Disziplin und der richtigen Diät” die “Weihnachtspfunde” schnell wieder loswird:

Oliver Kahn und Kati Witt verraten exklusiv in BUNTE, wie sie es geschafft haben.

In zwei Worten: Weight Watchers.

Kahn und Witt sind Werbefiguren für das amerikanische Unternehmen und seine Abnehm-Methode. Und die “Bunte” hat fünf vermeintlich redaktionelle Seiten in den Dienst der Werbebotschaft gestellt.

Das klingt im Gespräch von “Bunte”-Redakteurin Aline Götz mit Kati Witt dann zum Beispiel so:

Und wie haben Sie es geschafft?

Die Treffen mit einer Ernährungsberaterin von Weight Watchers haben mich neu motiviert und ich habe angefangen, Ernährung aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Hätten Sie das nicht auch ohne fremde Hilfe geschafft?

Ich finde, man darf und soll Unterstützung annehmen.

Von Oliver Kahn lassen sich die “Bunte”-Frauen Aline Götz und Margit Pratschko unter anderem erzählen, wie toll man mit dem Unternehmen mit dem Handy abnehmen kann:

Eine Diät erfordert eiserne Disziplin — als ehemaliger Hochleistungssportler für Sie kein Problem, oder?

Natürlich habe ich eine gewisse Disziplin. Aber man braucht gar nicht diesen Überwillen. Es ist eher eine Bewusstseinsveränderung. Ich habe gelernt, Nahrungsmittel richtig einzuschätzen, vor allem auch wie gesund etwas ist. Und mit Unterstützung durch eine App ist das Punktezählen gar nicht so anstrengend.

Oliver Kahn hat mithilfe einer App abgenommen?

Ja! Ich komme gerade vom Mittagessen: Spaghetti mit Scampi. Dann nehme ich mein Smartphone, suche bei “Restaurantgerichte” und weiß sofort: Aha, das sind so und so viele Punkte. Mit der Zeit habe ich ein richtig gutes Gefühl dafür entwickelt, welches Essen etwa wie viele Punkte hat. Ich fange morgens schon an und plane meinen Tag.

Die Überschrift hätte sich das Abnehm-Unternehmen kaum besser selbst ausdenken können (falls es sie sich nicht tatsächlich selbst ausgedacht hat):

OLIVER KAHN hatte zugelegt — wie er die Kilos ohne Quälerei loswurde, verrät er hier

Die beiden Magazin-Artikel gibt es auch in OnlineVersionen, die viel kürzer sind, aber natürlich nicht auf die entscheidende Nennung des Produktnamens verzichtet.

Auch Bild.de stellt sich in den Dienst der “Weight Watchers”-Werbung und macht Kahn zum “Abnehm-Titan”. Die Nachrichtenagentur dpa hat ihn in einem Interview nach den “Weight Watchers”-Prinzipien befragt.

Erst vor zwei Tagen hatte “Bild” die Sat.1-Moderatorin Andrea Göpel schwärmen lassen, wieviel sie mit dem Unternehmensprogramm abgenommen habe. Zum vorigen Jahreswechsel war es die Schauspielerin Christine Neubauer gewesen, der die Presse Raum für “Weight Watchers”-Werbung einräumte, unter anderem in “Bild der Frau”, “Bunte” und auf stern.de.

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